In den USA kommen mehr als 2 Drittel aller Prostatakrebs-Patienten für eine aktive Überwachung (Active Surveillance) in Frage. Das ergab eine aktuelle Studie an der University of Texas, die im Journal of Urology erschienen ist [1].
Selbst bei Anwendung von sehr strengen Einschlusskriterien könnten immerhin noch 44% aller Fälle aktiv beobachtet statt sofort behandelt werden, schreiben die Autoren unter der Leitung von Dr. Ian Thomson vom University of Texas Health Science Center in San Antonio, Texas, USA.

Prof. Dr. Axel Semjonow
Allerdings gibt es viele Hemmnisse, die eine aktive Überwachung erschweren – auch in Deutschland, wie Prof. Dr. Axel Semjonow, Leiter des Prostatakarzinomzentrums am Universitätsklinikum Münster im Gespräch mit Medscape Deutschland erläutert. „Nicht allen dafür in Frage kommenden Patienten wird diese Option angeboten.“ Das habe nicht zuletzt wirtschaftliche Gründe, die Finanzierung von Kliniken basiert stark auf der Anzahl der Operationen, die man dort macht. Zudem seien Männer unter aktiver Überwachung sehr „beratungsintensiv“, räumt Semjonow ein. „Selbst die Gelassensten unter ihnen wollen immer wieder ausführlich über ihre Kontroll-Werte sprechen, auch wenn diese keinen Anlass zur Sorge geben – das kostet viel Beratungszeit, die schlecht honoriert wird“, erklärt er.
Mehr PSA-basierte Früherkennung in USA, aber noch wenig aktive Überwachung
Die jetzt veröffentlichten Zahlen stammen aus einer Populationsstudie, die vom National Cancer Institute finanziert wurde – daher können sie als durchaus glaubwürdig betrachtet werden. Die 3.828 aus Texas stammenden Studienteilnehmer unterziehen sich regelmäßigen Tests des prostataspezifischen Antigens (PSA).
„In den USA wird PSA-basierte Früherkennung häufiger angewendet als in Deutschland. Die deutschen gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten für PSA in der Früherkennung nicht“, erklärt Semjonow die unterschiedliche Situation in beiden Ländern. „Hinsichtlich aktiver Überwachung waren bislang die US-Zentren eher zurückhaltend.“ Deshalb habe ihn die Studie von Thomson und seinen Kollegen positiv überrascht. „Die Studie zeigt, dass aktive Beobachtung auch in den USA an Bedeutung gewinnt“.
Das sollte auch hier das Ziel sein, meint der Urologe: „Insbesondere ältere Ärzte sollten umdenken. Als viele, die heute um die 60 sind, anfingen zu praktizieren, gab es die PSA-Früherkennung noch nicht. Prostatakarzinome wurden erst in deutlich fortgeschrittenem Stadium erkannt. Heute dagegen werden Karzinome durch den PSA-Test häufig so früh erkannt“, sagt Semjonow, „dass viele im Laufe des Lebens nicht mehr zu Symptomen führen würden. Durch die aktive Überwachung können wir Übertherapie verhindern.“
Aktive Überwachung bei Prostatakrebs nimmt in Deutschland zu
Allerdings sind deutliche Veränderungen in Sachen aktiver Überwachung zu verzeichnen. In den deutschlandweit damals 91 (heute 94) zertifizierten Prostatakrebs-Zentren wurden 2013 laut Jahresbericht des zertifizierenden Instituts Onkozert rund 16% der Prostatakrebs-Patienten mit lokal begrenztem Karzinom und Niedrigrisiko-Kriterien (PSA ≤ 10 ng/ml, Gleason-Score 6 und cT-Kategorie ≤ 2a) aktiv überwacht, im Vergleich zu lediglich 2,5% im Jahr 2010. Dabei lag die Spannbreite der Patienten unter aktiver Überwachung in den Zentren zwischen 0% und 77%.
Generell, sagt Semjonow, zeigten sich viele Männer gegenüber aktiver Überwachung offen, insbesondere jüngere, die Nebenwirkungen der Therapie sowie den wahrscheinlich eintretenden Erektionsverlust nach einer radikalen Prostarektomie vermeiden wollen. Er schätzt, dass sich am Universitätsklinikum Münster mehr als die Hälfte derer, die die Kriterien für aktive Überwachung erfüllen, auch diesen Weg gehen.
Dass allerdings insbesondere jüngere Männer unter 65 Jahren von einer radikalen Prostatektomie profitieren, zeigten die 2014 im New England Journal of Medicine veröffentlichten Ergebnisse der von Experten, ebenso von Semjonow, als „sehr wichtig“ eingestuften Skandinavischen Prostatakrebs Studiengruppe Nr. 4 (SPCG-4) unter der Leitung von Dr. Anna Bill-Axelson, Urologin am University Hospital in Uppsala, Schweden, wie Medscape Deutschland berichtete. SPCG4, so Semjonow, war die erste große Studie, die bereits 1989 begann, „Watchful Waiting“ und radikale Prostatektomie zu vergleichen.
„Watchful Waiting“ unterscheidet sich von der aktiven Überwachung. Ziel der aktiven Überwachung ist es, den Zeitpunkt der Therapie soweit wie möglich hinauszuzögern, dann jedoch eine kurative Therapie einzusetzen. Bei „Watchful Waiting“ wird das Auftreten von Symptomen abgewartet und dann eine palliative Therapie begonnen.
68 Prozent erfüllen Kriterien für aktive Überwachung in US-Studie
Die Texas-Kohorte, schreiben die US-Autoren, biete die Möglichkeit einen nationalen Zielwert für die Quote der für Aktive Überwachung geeigneten Patienten zu bestimmen. Bei der Untersuchung konnten von 281 aller 320 Studienteilnehmer, die von 2000 bis 2012 an Prostatakrebs erkrankten, ausreichend Daten generiert werden, sodass sie auf dem äußerst detaillierten Bewertungsbogen eingestuft werden konnten. Durch Krankheitskriterien wie hoher Gleason-Score kamen 131 von ihnen nicht für die aktive Überwachung in Frage.
Unter den übrigen erfüllten 123 Probanden das Kriterium 1, einen strengeren Kriterienkatalog für aktive Überwachung. Bei diesen Niedrigrisiko-Patienten lag die PSA-Dichte bei unter 0,15, weniger als 3 positive Stanzbiopsien, ein Gleason-Score von höchstens 6 und weniger als 50% Tumorbefall pro Gewebeprobe.
Unter Anwendung eines breiteren Einschlussspektrums (Kriterium 2) kamen 64 weitere Männer (24%) für Aktive Überwachung in Frage. Diese Patienten mit höherem Risiko hatten weniger als 5 positive Stanzbiopsien mit Gleason 3+3 und nur eine Stanzbiopsie mit Gleason 3+4, wobei bis zu 15% der Stanzbiopsie Gleason 3+4 erreichte. Kombinierte man beide Gruppen, eigneten sich 187 Patienten (68%) für eine aktive Überwachung.
Wie zu erwarten, war die Anzahl der Männer, die sich tatsächlich für eine aktive Überwachung entschied, wesentlich geringer. Von 2000 bis 2007 entschieden sich dafür 11% der Männer, bei denen Prostatakrebs diagnostiziert wurde. Von 2007 bis 2012 waren es 35%. Diese Zahlen seien nicht überraschend, bemerken die Autoren, da die Studie in einer „Phase einer Veränderung der Behandlungsmuster“ durchgeführt wurde. Zudem wurden die Patienten von einer „Vielzahl niedergelassener Urologen“ behandelt, räumen sie ein.
Aktive Überwachung nicht nur für Niedrigrisiko-Patienten?
Die aktive Beobachtung sollte „einer größeren Anzahl gut informierter Männer angeboten werden, die die Funktion ihrer Prostata bewahren möchten und dafür das geringe Risiko eines Fortschreitens ihrer Krankheit in Kauf nehmen“, schreiben Dr. Marc Dall’Era von der University of California in Davis und Dr. Peter Carroll von der University of California in San Francisco in einem Editorial zu der Studie [2]. Mit anderen Worten käme diese Strategie nicht nur für Niedrigrisiko-Patienten in Frage. Sie erklären, dass „sich das Risiko unerwünschter Krankheits-spezifischer Ergebnisse wahrscheinlich insgesamt erhöht, wenn auch Männer mit mittlerem Risikoprofil ins Monitoring einbezogen werden“. Jedoch sei „das absolute Risiko immer noch gering“.
Thomson und seine Kollegen schauten sich außerdem die Behandlungsdaten von 178 Studienteilnehmern an. Pathologische Gutachten waren verfügbar von 74 Patienten, die einer radikalen Prostatektomie (RP) unterzogen wurden. Durch diese Daten konnte das Team die Ergebnisse zu Studienbeginn mit den zuverlässigeren Endergebnissen vergleichen.
Im Vergleich zu den Ergebnissen der initialen Biopsie wurden nach einer Analyse der Endergebnisse 33% der Patienten, die die Niedrigrisiko-Kriterien für aktive Überwachung erfüllten, und 25% derer, die das Kriterium 2 erfüllten, in eine höhere Risikogruppe eingestuft.
Diese höher eingestuften Patienten „geben Anlass zur Sorge“, räumen die Autoren ein. Ihre Sorge galt dabei jedoch insbesondere einem bestimmten Phänomen: „Es ist wichtig zu wissen, dass bei fünf Patienten, die höher eingestuft wurden, die Samenblase befallen war – das ist vielleicht das wichtigste Kriterium für eine höhere Einstufung des Risikos. Jedoch kam keiner dieser Patienten für aktive Überwachung in Frage“, schreiben Thomson und seine Kollegen.
Aktuell wird aktive Überwachung in 2 großen Prostatakrebs-Studien unter die Lupe genommen: In der internationalen PRIAS-Studie werden Patienten mit einem neu diagnostizierten, organbegrenzten Prostatakarzinom aktiv überwacht. Die deutsche Prostatakrebsstudie PREFERE vergleicht alle 4 Behandlungsmethoden, die die deutsche Leitlinie zur Erstbehandlung des lokal begrenzten Prostatakarzinoms empfiehlt – radikale Prostatektomie, perkutane Strahlentherapie, Brachytherapie mittels Seedimplantation und aktive Überwachung (wie Medscape Deutschland berichtete).
Dieser Artikel wurde von Julia Rommelfanger aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
REFERENZEN:
1. Overholser S, et al: J Urol. 2015;194:680-684
Diesen Artikel so zitieren: Aktive Überwachung bei Prostatakrebs: Viele wären dafür geeignet – warum es trotzdem oft nicht gemacht wird - Medscape - 1. Okt 2015.
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