2002 schreib ein Reviewer der FDA, die Studie solle als „gescheitert“ betrachtet werden, da sich in der behandelten Gruppe keine Überlegenheit gegenüber Placebo gezeigt habe. Offenbar verzichtete SmithKline Beecham in der Folge bei der FDA auf eine Zulassungserweiterung von Paroxetin für Jugendliche. SmithKline Beecham, später GlaxoSmithKline (GSK) nutzen die Studiendaten aber zu einer Kampagne, die mit der „außergewöhnlichen Effektivität und Sicherheit“ von Paroxetin warb.
Diese Kampagne war außerordentlich erfolgreich: 2002 wurden über 2 Millionen Rezepte für Kinder und Jugendliche allein in den USA ausgestellt. In den Jahren 2002 und 2003 stieg die Zahl der Verordnungen von Paroxetin an Teenager um 36%. 2012 schließlich wurde GlaxoSmithKline in den USA wegen betrügerischen Promotens zu einer Strafe von 3 Milliarden Dollar verurteilt. Der Hersteller hatte Paroxetin unter dem Handelnamen Paxil® – von der FDA nur für Erwachsene zugelassen – gezielt an Jugendliche weitergegeben und Gratisproben unter Psychiatern verteilt.
Studie 329 ist bis heute noch nicht zurückgezogen
Jureidini hatte schon 2003 das JAACAP dazu aufgefordert, die Studie zurückzuziehen. 2005 erhielt die Fachzeitschrift dann außerdem den Hinweis, dass Studienleiter Keller, Chef der Psychiatrie an der Brown University, für GSK gearbeitet hatte, dies aber in den Interessenkonflikten nicht erwähnt worden sei – und worüber schon 1999 im Boston Globe berichtet worden war. 2009 erhielt das JAACAP erneut eine Aufforderung, die Studie zurück zu ziehen. Und 2013 trat Jureidini ein weiteres Mal an den CEO von GSK, Andrea Witty, heran: alles ohne Erfolg.
„Keiner der 22 zumeist akademischen Studienautoren oder die Redakteure des Journals oder die akademischen und professionellen Institutionen, zu denen sie gehören, haben interveniert, um die Sachlage zu korrigieren“, moniert Doshi. Das JAACAP habe bislang keine Berichtigung vorgenommen und keiner der Autoren des Artikels, von denen viele in der Lehre tätig und prominente Mitglieder ihrer jeweiligen Berufsverbände sind, wurde disziplinarisch bestraft, rügt der Prüfer.
„Es wird ja oft gesagt, dass sich Wissenschaft selbst korrigiert. Doch für diejenigen, die vor vielen Jahren dazu aufgerufen haben, sich das Keller-Papier erneut anzuschauen, hat dieses System versagt“, bilanziert Doshi. Und fährt fort: „Wissenschaft kann sich nur selbst korrigieren, wenn die Community dazu bereit ist und die notwendigen Informationen und Instrumente zur Verfügung stehen.“
„Eine Studie, die wir mangels Transparenz ihrer Planung und ihrer Ergebnisse nicht überprüfen und diskutieren können, kann auch nicht korrigiert werden“, sagt auch Wieseler. Doshi hofft nun, dass das neue Papier „die Rufe nach der Rücknahme der Originalstudie verstärkt und zusätzlichen Druck auf akademische und professionelle Institutionen aufbaut, die Anschuldigungen des Fehlverhaltens öffentlich zu adressieren“.
Die eigentliche Story: Es gab keine Anhörung, keine Diskussion
Ivan Oransky, Mitbegründer des Retraction Watch Blog, ist von der Haltung des Journals und der Universität nicht wirklich überrascht „Es entspricht ganz sicher unserer Erfahrung, dass Journale, Forscher und Institutionen unglaublich dickköpfig dabei sein können, fehlerhafte Paper zurückzuziehen, Aufrufe dazu zu ignorieren oder überhaupt positiv auf einen solchen Aufruf zu reagieren.“ Prof. Dr. Roy Poses, Präsident der Foundation for Integrity and Responsibility in Medicine an der Brown University sagt: „Die eigentliche Story ist, dass es keine Story gab. Es gab keine formale Untersuchung, keine Anhörung, kein Fakultätsforum, keine echte öffentliche Diskussion.“
„Universitäten sind inzwischen firmenähnlicher als viele Firmen“, so beschreibt Oransky den Umstand, dass Institutionen wie die Brown University die Probleme angehen sollten, anstatt den Mantel des Schweigens drüber zu breiten. Die Kontroverse werde nicht enden, nur weil sie aufhören, drüber zu reden. Wenn überhaupt werde es dadurch nur schlimmer.
Der Nachweis der Relevanz der Datentransparenz ist längst erbracht
„Die Freigabe klinischer Studiendaten hat das Potenzial, den Patienten zu nutzen, sie beugt Schäden vor und korrigiert fehlgeleitete Forschung“, schreibt Prof. Dr. David Henry, University of Toronto, in einem begleitenden Editorial im BMJ. Zwar sei die Datenfreigabe nicht ohne Risiko, so Henry, „aber die Vorteile einer systematischen Anstrengung, wichtige klinische Studien neu zu bewerten, werden hoch sein und wird sie ferner die ursprünglich riesigen Investitionen von Zeit und Geld rechtfertigen“, schließt er.
Auch vor dieser ersten Publikation der RIAT-Initiative habe es unzählige Beispiele gegeben, die unterstreichen, wie notwendig die Transparenz von Studiendaten für eine adäquate Patientenversorgung sei, erklärt Wieseler und fügt hinzu. „Wir benötigen keine weiteren Studien, die die Relevanz von Datentransparenz nachweisen. Denn dieser Nachweis ist längst erbracht. Was wir jetzt brauchen, sind klare gesetzliche Anforderungen für die Veröffentlichung von Studiendaten und die konsequente Umsetzung dieser Regelungen. Dann sollten wir unsere Ressourcen dazu nutzen, um aus den umfangreichen Studieninformationen Wissen zu generieren.“
REFERENZEN:
1. Le Noury J, et al: British Medical Journal 2015;351:h4320
Diesen Artikel so zitieren: Reanalyse von Studie 329 mit Paroxetin zeigt: Die Selbstkorrektur der Wissenschaft „hat versagt“ - Medscape - 23. Sep 2015.
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