Sie ist eine der wohl umstrittensten Arzneimittelstudien, die es je gegeben hat: Studie 329. Der inzwischen emeritierte Psychiater Prof. Dr. Martin Keller und seine Kollegen bescheinigten mit dieser Studie dem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer Paroxetin, es sei „generell gut verträglich und wirksam“ für Kinder und Jugendliche. Das Gegenteil ist der Fall, wie die Re-Analyse der Studie durch eine Forschergruppe im British Medical Journal jetzt zeigt: Paroxetin ist weder effektiv noch sicher, stattdessen verursacht es eine Reihe von erheblichen Nebenwirkungen [1].
„Nur wenige Studien haben dermaßen Kritik auf sich gezogen wie die Studie 329“, betont Dr. Peter Doshi, stellvertretender Herausgeber des BMJ, in einem Begleitartikel [2]. Die Studie war vor rund 15 Jahren im Journal of the American Association of Child & Adolescent Psychiatry (JAACP) erschienen. Kein Ruhmesblatt für die Fachzeitschrift: „Im Fall der Studie 329 wäre keine erkenntnistheoretische Akrobatik in der Lage, die Differenzen zwischen dem JAACP-Artikel und der RIAT-Wiederveröffentlichung zu überbrücken. Sie können nicht beide Recht haben“, macht Doshi klar. Er hatte vor 2 Jahren das Projekt RIAT (Restoring Invisible and Abandoned Trials) initiiert, einen Zusammenschluss von Forschern, der sich für größere Transparenz in der medizinischen Forschung einsetzt.

Dr. Beate Wieseler
„Die Re-Analyse der Studie 329 zeigt beispielhaft, wie wertvoll die vollständige Transparenz von Methoden und Ergebnissen klinischer Studien ist.“, betont auch Dr. Beate Wieseler, Ressortleiterin Arzneimittelbewertung beim Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), gegenüber Medscape Deutschland. „Erst diese Transparenz ermöglicht es, Aussagen zu Arzneimitteln zu überprüfen und, falls notwendig, auch falsche Versprechungen zu korrigieren. Diese können ja weitreichende Auswirkungen auf die Versorgung von Patienten haben“, fügt Wieseler hinzu.
Welche problematischen Wirkungen Antidepressiva bei Jugendlichen haben können, werde in der Literatur bereits intensiv diskutiert. „Ich hoffe deshalb, dass diese Arzneimittel bereits jetzt nicht mehr unkritisch eingesetzt werden. Aber auch unabhängig davon liefert die Re-Analyse dieser wichtigen Studie wertvolle Informationen zur Wirkung von Paroxetin“, so Wieseler. Erst im Mai diesen Jahres hatte Prof. Dr. Peter Gotzsche, Direktor der Cochrane Collaboration in Norwegen, im BMJ eine Diskussion darüber angestoßen, ob Antidepressiva und Antipsychotika nicht mehr schadeten als nutzten.
Bis dato vertrauliche Studiendaten mit ausgewertet
Unter der Leitung von Prof. Dr. Jon Jureidini, Kinderpsychiater an der Universität Adelaide in Australien, hat sich das RIAT-Team die randomisierte, placebokontrollierte Doppelblindstudie 329 noch einmal vorgenommen. Zusätzlich werteten sie bis dato vertrauliche Studiendaten aus, um deren Freigabe mit dem Hersteller GlaxoSmithKline jahrelang gerungen worden war.
Sie fanden heraus, dass weder Paroxetin noch hochdosiertes Imimpramin bei der Behandlung der Major Depression bei Adoleszenten effektiver als Placebo war: Der Wert auf der Hamilton Depression Skala (HAM-D) sank um je 10,7 (95%-Konfidenzintervall: 9,1-12,3), 9,0 (95%-KI: 7,4-10,5) und 9,1 (95%-KI: 7,5-10,7) Punkte für Paroxetin, Imipramin und Placebo (p = 0,20). In einer Pressemitteilung der Universität Adelaide bezeichnete Jureidini das Corpus delicti 329 dann auch als Beispiel einer Studie, über die falsch berichtet worden war und die erneut geprüft werden müsste.
Kein Vorteil gegenüber Placebo – dafür jede Menge Nebenwirkungen
Den Anstieg der schädlichen Nebenwirkungen unter beiden Arzneimitteln stuften Jureidini und seine Kollegen als klinisch signifikant ein. 11 von 93 Patienten im Paroxetin-Arm (vs 2 von 87 im Placebo-Arm) wiesen schwerwiegende psychiatrische Beeinträchtigungen auf, die zur Hospitalisierung zwangen. Dazu zählten etwa Suizidgedanken, suizidales Verhalten, auffällige Aggressionen, Verschlimmerung der Depression, euphorisches Verhalten und schwere Kopfschmerzen. Unter Imipramin traten vermehrt kardiovaskuläre Probleme auf.
Die Arbeit von Jureidini und seinen Kollegen will als erste Studie, die unter der Initiative RIAT analysiert und publiziert worden ist, auch dazu ermutigen, unpublizierte Daten oder Studien, die zu falschen Ergebnissen kommen, zu publizieren und zu korrigieren. Nur dies stelle sicher, dass Ärzte und Patienten komplette und präzise Informationen vorliegen haben, um ihre Therapieentscheidungen zu treffen.
Studie 329: Mit Manipulationen zum Verkaufserfolg
Ziel der Studie 329 war seinerzeit gewesen, die Sicherheit und Wirksamkeit des SSRI Paroxetin im Vergleich zum trizyklischen Antidepressivum Imipramin und gegenüber Placebo nachzuweisen. Zwischen April 1994 und Februar 1998 hatten sich 12 nordamerikanische Psychiatrie-Zentren beteiligt, eingeschlossen wurden 275 Heranwachsende mit Major Depression, die über 8 Wochen mit Paroxetin, Imipramin oder Placebo behandelt worden waren.
Doshi ruft noch einmal das Hin und Her um die Studie in Erinnerung: 1999 hatte das amerikanische Ärzteblatt JAMA die Publikation der Studie abgelehnt, daher erschien sie erst 2001 im JAACAP. Aber poliert – mit Hilfe einer PR-Agentur. Sie formulierte „Suizidalität“ in „emotionale Labilität“ um, aus „Aggressivität“ wurde „Verhaltensstörung“. Ein Zusammenhang mit dem Medikament wurde nicht hergestellt und die Verschlimmerung der Depression – von den Re-Analysten als klare Nebenwirkung gewertet – werteten die urprünglichen Autoren als „Therapieversagen“.
Diesen Artikel so zitieren: Reanalyse von Studie 329 mit Paroxetin zeigt: Die Selbstkorrektur der Wissenschaft „hat versagt“ - Medscape - 23. Sep 2015.
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