London – Am Wochenende startete der Jahreskongress 2015 der European Society of Cardiology (ESC) in London mit einer Rekordzahl von mehr als 26.000 Besuchern. Mit 2.100 Teilnehmern stellt Deutschland den größten Anteil – noch vor Großbritannien, berichtete Prof. Dr. Geneviève Derumeaux, Centre Hospitalier Universitaire in Lyon, Frankreich, Vorsitzende des ESC Programmkomitees, bei der Auftakt-Pressekonferenz.
Anlässlich des Kongresses werden in insgesamt 661 Sitzungen Neuigkeiten aus der Kardiologie präsentiert. Auch werden in London 5 neue klinische Praxis Leitlinien der ESC vorgestellt:
• zu perikardialen Erkrankungen,
• ventrikulären Arrhythmien und plötzlichem Herztod,
• zum akuten Koronarsyndrom (ACS) ohne ST-Hebung (NSTE-ACS)
• zur infektiösen Endokarditis und
• zum pulmonalen Hochdruck (gemeinsam mit der European Respiratory Society, ERS).
Perikardiale Erkrankungen: Nach elf Jahren die erste neue Leitlinie, Colchicin als Firstline
Für die perikardialen Erkrankungen ist es die erste neue Leitlinie seit dem Jahr 2004. Seitdem hat sich viel getan. Vor allem gab es die randomisierten Studien mit Colchicin, das nun als Firstline-Medikament (plus ASS oder NSAR) bei akuter Perikarditis empfohlen wird. Der Co-Chair der Leitlinien Task Force Prof. Dr. Yehuda Adler, Tel Aviv Universität, Israel, erhofft sich durch die neuen Empfehlungen Verbesserungen im Outcome und für die Lebensqualität der Patienten. In den Studien hatte Colchicin die Remissionsraten erhöht und das Risiko für ein Wiederauftreten der Erkrankung, das im Schnitt rund 30% beträgt, reduziert.
Neu in der Leitlinie sind auch spezifische Empfehlungen zum Management der Perikarditis bei Schwangeren und stillenden Müttern, bei denen Colchicin und ASS (ab der 20. SSW) als kontraindiziert gelten. Zudem sind nun spezifische Kriterien für die Diagnose der Perikarditis und des Perikardergusses in der Leitlinie aufgeführt.
Ventrikuläre Arrhythmien und plötzlicher Herztod: DNA-Test post mortem bei jungen Opfern
Die neue ESC Leitlinie zum plötzlichen Herztod schließlich enthält die neue Empfehlung, bei jungen Menschen, die am plötzlichen Herztod gestorben sind, post mortem eine DNA Analyse vorzunehmen. Denn die rasche Identifizierung möglicher genetischer Ursachen könne dazu beitragen, ebenfalls gefährdete Familienmitglieder zu erkennen und zu schützen.
Eine weitere bedeutsame neue Empfehlung dient der Identifizierung von Patienten mit ischämischer Herzerkrankung, die ein hohes Risiko für einen plötzlichen Herztod haben und von einem ICD (implantierbaren Cardioverter Defibrillator) profitieren könnten. Denn nach 8 Jahren Follow-up der MADIT II Studie ist eindeutig klar, dass ein ICD bei Patienten mit einer Auswurffraktion unter 30% im NYHA Stadium II bis III die Überlebenszeit verlängert. In den Leitlinien wird eine Re-evaluation der linksventrikulären Funktion 6 bis 12 Wochen nach einem Infarkt empfohlen, um über den Bedarf einer Primärprävention per ICD zu entscheiden.
„Die Empfehlung trägt dem Umstand Rechnung, dass sich bei vielen Patienten mit reduzierter Ejektionsfraktion früh nach dem Infarkt die Situation mit der Zeit doch wieder verbessert und sie keinen ICD benötigen”, erläutert Prof. Dr. Carina Blomström-Lundqvist, Uppsala Universität, Schweden, Co-Chair der Leitlinien Task Force. Zum Einsatz der kardialen Resynchronisationstherapie (CRT) fordert die Leitlinie mehr Studien. Auch müsse die Rolle des QRS-Komplexes für das Ansprechen auf die Therapie noch weiter untersucht werden.
ACS-NSTE: Arm statt Leiste als Zugangsweg, DAPT-Dauer wird flexibler
In der neuen ESC Leitlinie zum ACS ohne persistierende ST-Erhöhung wird nun – mit dem höchsten Empfehlungsgrad – der radiale Zugang bei der perkutanen Koronarintervenion (PCI) favorisiert. „Neue Daten zeigen, dass der radiale Zugang besser ist – und zwar nicht nur in punkto vaskulären Komplikationen und schweren Blutungen sondern auch was die Reduktion der Gesamtmortalität angeht”, so der Vorsitzende der Task Force Prof. Dr. Marco Roffi, Universitätshospital Genf, Schweiz. „Es wird empfohlen, dass Zentren, die ACS-Patienten behandeln, einen Übergang vom transfemoralen zum transradialen Zugang in die Wege leiten.“
Die Leitlinie enthält außerdem einen neuen kürzeren Algorithmus für die Diagnose bei Verdacht auf NSTEMI (Myokardinfarkt ohne ST-Erhöhung) – wenn hochsensitive Troponin-Assays verfügbar sind, können Bluttest sofort bei der Präsentation und dann nach 1 Stunde erfolgen, bislang war der 2. Test erst nach 3 Stunden üblich. Prof. Dr. Carlo Patrono, Rom, Co-Chair der Task Force, kommentiert dies: „Beide Algorithmen sind ähnlich gut und beide können verwendet werden. Das 1-Stunden-Protokoll beschleunigt aber die Diagnose und anschließende Behandlung eines NSTEMI – oder schließt ihn aus, so dass der Patient früher entlassen oder anderen Untersuchungen zugeführt werden kann. Dies sollte den Aufenthalt in der Notfallambulanz verkürzen.“
Diesen Artikel so zitieren: Fünf neue kardiologische Leitlinien beim ESC-Kongress: Das sind die wichtigsten Neuerungen für die Praxis - Medscape - 31. Aug 2015.
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