Es ist ein Ergebnis, das die bisherigen Behandlungsprinzipien HIV-Infizierter auf der ganzen Welt grundlegend verändern kann: Folgt man den Empfehlungen der Autoren einer gerade im New England Journal of Medicine veröffentlichten internationalen Studie, sollten alle mit dem HI-Virus infizierte Personen ohne Verzug nach der Diagnose mit einer antiretroviralen Therapie beginnen. Die CD4-Zellzahl, an der man sich für den Beginn der Therapie bislang vorrangig orientierte, ist dabei unerheblich [1].
Die randomisierte START-Studie (Strategic Timing of Antiretroviral Treatment) mit mehr als 4.500 Patienten hat gezeigt, dass die frühe Behandlung ein kombiniertes Risiko aus schweren mit AIDS einhergehenden oder von AIDS unabhängigen Erkrankungen sowie der Sterblichkeit um rund die Hälfte reduzieren kann. Die Ergebnisse waren bei einer Interims-Analyse im Mai 2015 so überzeugend, dass die Studie rund ein Jahr vor dem geplanten Ende durch das Data Safety Monitoring Board abgebrochen worden ist.
Wiegen die Vorteile eines frühen Therapiebeginns mögliche Risiken auf?
Im April 2009 wurden die ersten Patienten in die Studie aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt empfahlen noch fast alle internationalen Leitlinien, die antiretrovirale Therapie erst bei CD4-Zellzahlen unter 350 Zellen/µl zu beginnen. Die Ergebnisse verschiedener Beobachtungsstudien zu Vorteilen eines früheren Behandlungsbeginns waren inkonsistent. Einige Untersuchungen warfen zudem Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der antiretroviralen Medikamente auf, Nebenwirkungen wie Nieren- und kardiovaskuläre Erkrankungen wurden als Folge der Behandlung befürchtet.
„Angesichts des geringen absoluten Risikos für eine AIDS-Erkrankung bei Patienten mit hohen CD4-Zellzahlen, war es wichtig herauszufinden, ob die Initiierung einer antiretroviralen Therapie bei asymptomatischen Patienten mit CD4-Zellzahlen weit über 350/µl sicher ist und dem Patienten einen Nutzen bringt“, beschreiben die Autoren die Motivation für ihre Studie.
Außerdem hätten weitere Studien zwischenzeitlich belegt, dass die antiretroviralen Medikamente das HIV-Übertragungsrisiko für gesunde Sexualpartner verringern könnten. Die Frage war also letztlich: Wiegen die Vorteile einer frühen Behandlung mögliche Risiken auf?
Einige Patienten erhielten die Medikamente sofort, andere mussten warten
Insgesamt 4.685 Patienten (Durchschnittsalter 36 Jahre) aus 35 Ländern in Afrika, Europa/Israel, Nordamerika, Südamerika/Mexiko, Australien und Asien wurden zwischen April 2009 und Dezember 2013 an 215 verschiedenen Standorten in die Studie aufgenommen. Alle Teilnehmer wiesen bei Beginn der Studie eine CD4-Zellzahl von mindestens 500 Zellen/µl auf, die AIDS-Erkrankung durfte bei ihnen noch nicht ausgebrochen sein.
Die Randomisierung erfolgte in 2 Gruppen: In Gruppe 1 wurde die antiretrovirale Therapie (vor allem mit Tenofovir, Emtricitabin und Efavirenz) unmittelbar nach der Aufnahme der Patienten in die Studie gestartet. In Gruppe 2 erhielten die Patienten die entsprechenden Medikamente erst, wenn ihre Zellzahl unter 350 Zellen/µl gesunken war.
Als primärer Endpunkt diente eine Kombination aus 2 Komponenten: Die erste Komponente bestand aus jeglichen mit AIDS in Verbindung stehenden schweren Erkrankungen (z.B. Hodgkin-Lymphom). Die zweite Komponente umfasste weitere schwere Erkrankungen, die unabhängig von einer AIDS-Erkrankung (z.B. Herzinfarkt oder Schlaganfall) auftreten, sowie Todesfälle verschiedenster Ursachen.
Die Studie wurde vorzeitig abgebrochen – die Resultate waren eindeutig
Im Mai 2015 – die Patienten waren bis dahin im Schnitt 3 Jahre lang beobachtet worden – entschied das Data Safety Monitoring Board, dass die der Studie zugrunde liegende Frage ausreichend beantwortet worden sei. Die Resultate sprachen so eindeutig für die frühzeitige Behandlung, dass die Experten empfahlen, auch den Patienten der Gruppe 2, deren Behandlung entsprechend dem vorgesehenen Studienprotokoll noch nicht begonnen hatte, die antiretroviralen Medikamente anzubieten.
So lag das Risiko für schwere (AIDS-)Erkrankungen und Todesfälle bei Patienten, deren Therapie ohne Verzug startete, um 57% niedriger als bei denjenigen Patienten, deren Therapie erst bei weniger als 350 CD4-Zellen/µl begonnen hatte. Konkret wurden 96 schwere (AIDS-)Erkrankungen und Todesfälle in der Verzögerungsgruppe dokumentiert, aber nur 42 solcher Ereignisse in der Gruppe mit sofortigem Therapiestart.
Dabei traten die mit AIDS einhergehenden Erkrankungen (vor allem Tuberkulose, das Kaposi-Sarkom und maligne Lymphome) bei den frühzeitig behandelten Patienten um 72% seltener auf (14 vs 50 Ereignisse). Weitere schwere Erkrankungen – hier dokumentierten die Forscher hauptsächlich von AIDS unabhängige Krebs- und kardiovaskuläre Erkrankungen – wurden 39% seltener nach einem frühen Behandlungsstart dokumentiert (29 vs 47 Ereignisse).
Gleichzeitig – und dies ist für den Epidemiologen Prof. Dr. Salim S. Abdool Karim, University of KwaZulu-Natal, Durban, Südafrika, und Columbia University, New York, fast noch bedeutender – beobachteten die START-Wissenschaftler keine gesteigerte Nebenwirkungsrate durch die frühe Behandlungsstrategie. Verschiedentlich vorgetragene Befürchtungen, die frühe antiretrovirale Therapie könnte schädlich sein, seien damit widerlegt, schreibt er in seinem begleitenden Editorial [2].
Die neuen Erkenntnisse könnten zu einer Korrektur vieler Leitlinien führen
Noch während die START-Studie lief wurden bereits diverse Leitlinien überarbeitet und die Therapieschwelle von 350 CD4-Zellen/µl gelockert. Die Autoren der US-amerikanischen Leitlinie halten beispielsweise antiretrovirale Medikamente mittlerweile auch bei über 500 CD4-Zellen/µl für empfehlenswert. Den Evidenzgrad ihrer Empfehlung beschreiben sie in den Guidelines jedoch – wegen bislang fehlender randomisierter Studien – nur als moderat.
Auch die Deutsch-Österreichische Leitlinie sieht bereits vor, dass die antiretrovirale Therapie bei über 500 CD4-Zellen/µl vertretbar ist. Allerdings sollten dann bestimmte Zusatzkriterien (z.B. eine Schwangerschaft, Alter über 50 Jahre oder eine Plasmavirämie über 100.000 Kopien/ml) vorliegen.
Die neuen Erkenntnisse aus der START-Studie könnten zu einer weiteren Korrektur vieler internationaler Leitlinien führen. „Unsere Resultate weisen darauf hin, dass die antiretrovirale Therapie allen Patienten mit einer HIV-Diagnose unabhängig von ihrer CD4-Zellzahl empfohlen werden sollte“, schreiben die Autoren. Denn offenbar, so vermuten sie, könnte das Immunsystem bereits frühzeitig im Rahmen einer HIV-Infektion geschädigt werden – auch wenn die CD4-Zellzahl noch vergleichsweise hoch sei.
Frühe Therapien für alle HIV-Patienten weltweit ist eine „beängstigende Aufgabe“
Die START-Forscher bemerken zwar, dass der Beobachtungszeitraum letztlich mit durchschnittlich 3 Jahren eher kurz war. „Es ist wichtig, Nutzen und Risiken einer Langzeittherapie zu evaluieren.“ Die „globale Relevanz“ ihrer Daten sehen sie dadurch jedoch nicht eingeschränkt. Der Nutzen der frühen antiretroviralen Therapie habe sich in allen beteiligten Ländern bestätigt.
Dass eine globale Relevanz auch zu globalen Konsequenzen führen müsse, darauf weist Abdool Karim in seinem Text hin. Programme für eine frühzeitige Behandlung aller Patienten mit HIV weltweit zur Verfügung zu stellen, sei allerdings eine „beängstigende Aufgabe“, so schreibt er. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen seien weltweit 36,9 Millionen Menschen mit HIV infiziert, nur etwa 15 Millionen erhielten derzeit antiretrovirale Medikamente.
Viele der 20 Millionen HIV-positiven Menschen ohne Therapie lebten in afrikanischen Ländern, die zu den ärmsten der Welt gehörten und deren unterentwickelte und unterfinanzierte Gesundheitssysteme bereits jetzt an ihre Grenzen stoßen würden, so Abdool Karim. „Eine lebenslange, hochqualitative HIV-Behandlung benötigt gut funktionierende, erreichbare und bezahlbare Gesundheitsdienste.“ Ohne eine effektivere Nutzung der verfügbaren Mittel und Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen sei dies nicht durchführbar.
REFERENZEN:
1. The INSIGHT START Study Group: NEJM 2015;373:795-807
2. Abdool Karim SS, et al: NEJM 2015;373:875-876
Diesen Artikel so zitieren: START-Studie: Antiretrovirale Therapie für alle HIV-Patienten – sofort! - Medscape - 28. Aug 2015.
Kommentar