Das neue Pflegegesetz im Bundesparlament: Was sich in der Pflege künftig verändern soll

Sonja Böhm

Interessenkonflikte

12. August 2015

Es ist wohl Gröhes wichtigstes Projekt als Bundesgesundheitsminister in dieser Legislaturperiode: Heute hat das Bundeskabinett in der ersten Kabinettssitzung nach der Sommerpause die 2. Stufe der Pflegereform beschlossen. Schon zum Jahresbeginn waren einige Leistungen der Pflegeversicherung verbessert worden.  Doch nun geht es um die Kernpunkte der Reform: die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffes. Aus den bisherigen 3 Pflegestufen werden 5 sogenannte Pflegegrade.

Die bisherige Unterscheidung zwischen Pflegebedürftigen mit körperlichen Einschränkungen einerseits und mit kognitiven und psychischen Einschränkungen andererseits soll wegfallen. Erfasst wird in demnächst 77 anstelle von bislang 30 einzelnen Kategorien vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) „der individuelle Unterstützungsbedarf jedes Einzelnen“, wie es im Gesetzentwurf heißt.

Damit soll vor allem der Situation der Demenzkranken und der sie Pflegenden verbessert werden. Bislang war bei der Begutachtung der Aufwand für die Pflege von verwirrten Menschen – aufgrund der zu starken Gewichtung körperlicher Einschränkungen – nicht ausreichend berücksichtigt worden, kritisierten Patientenvertreter schon seit langem. Dies will Hermann Gröhe (CDU) nun durch das neue Begutachtungssystem ändern.

Die Beeinträchtigung zählt, nicht die Zeit für die Pflege

Die neue Begutachtung – bei der nicht mehr die Zeit gemessen wird, die zur Pflege notwendig ist, sondern bewertet wird, wie stark die Selbstständigkeit des zu Pflegenden beeinträchtigt ist – ist seit 2014 in der Praxis erprobt worden, dies im Rahmen von 2 Modellprojekten, die der GKV-Spitzenverband koordiniert hat. Eine Praktikabilitätsstudie mit mehr als 1.700 pflegebedürftigen Menschen in Deutschland sollte mögliche Probleme bei der Begutachtung im häuslichen Bereich vor einer bundesweiten Einführung aufdecken. Der Abschlussbericht liegt seit April 2015 vor und wurde im Gesetzentwurf berücksichtigt.  Parallel fand ein ähnliches Projekt in 40 Pflegeheimen statt.   

 
Niemand muss befürchten, schlechter gestellt zu werden. Alle Pflegebedürftigen erhalten ihre bisherigen Leistungen weiter, die allermeisten mehr. Hermann Gröhe
 

Das Pflegestärkungsgesetz II, das heute das Bundekabinett passiert, soll die Situation der pflegebedürftigen Menschen verbessern. „Wir wollen den Menschen, die Pflege benötigen, besser gerecht werden", erklärte Bundesgesundheitsminister Gröhe vor wenigen Tagen in einem Zeitungsinterview. „Die Reform nutzt allen. Denn der tatsächliche Unterstützungsbedarf wird besser erfasst. Das bestätigen auch die Experten. Auch Demenzkranke bekommen jetzt gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung.“

Sein Versprechen: „Niemand muss befürchten, schlechter gestellt zu werden. Alle Pflegebedürftigen erhalten ihre bisherigen Leistungen weiter, die allermeisten mehr.“ Mittelfristig, so rechnet er, könnten durch die Gesetzesänderung bis zu 500.000 Menschen zusätzlich Unterstützung erhalten. Dies sei eine Steigerung des Leistungsvolumens von über 20%, betonte Gröhe gegenüber der Tagesschau: „Eine solche Steigerung des Leistungsvolumens von über zwanzig Prozent hat es in einem sozialen Sicherungssystem noch nie gegeben!"

Wer zahlt für die ambitionierte Pflegereform?

Vor allem die Ausweitung des Anspruchs kostet natürlich: Für den zugesagten Bestandsschutz werden rund 800 Millionen Euro veranschlagt, für die rund halbe Million neu Anspruchsberechtigten und die Überführung in das neue Pflegegrade-System rechnet die Bunderegierung mit Mehrkosten von etwa 3,6 Milliarden in den kommenden 4 Jahren.

Bezahlt wird dies aus der Rücklage der Pflegeversicherung, die derzeit rund 6,6 Milliarden beträgt, und einer Anhebung der Pflegeversicherung, die erst in diesem Jahr um 0,3 Prozentpunkte gestiegen ist, um weitere 0,2 auf dann 2,55% (2,8% für Kinderlose) ab 2017. Dadurch sollen die Pflegekassen jährlich rund 5 Milliarden Euro mehr erhalten.

Würdigung der pflegenden Angehörigen

 
Eine solche Steigerung des Leistungsvolumens von über zwanzig Prozent hat es in einem sozialen Sicherungssystem noch nie gegeben! Hermann Gröhe
 

Ein Ziel des neuen Gesetzes ist auch, die familiäre, häusliche Pflege zu stärken. So sollen die Pflegekassen in Zukunft für Menschen, die aus dem Beruf aussteigen, um Angehörige zu pflegen, dauerhaft Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlen – bisher war dies auf 6 Monate limitiert.  Auch Beiträge zur  Rentenversicherung sind vorgesehen: Wer regelmäßig ein Familienmitglied ab Pflegegrad 2 an mindestens 2 Tagen und mindesten 10 Stunden wöchentlich betreut, hat Anspruch darauf. Die Höhe richtet sich nach den neuen Pflegegraden. 

Außerdem sollen die Pflegekassen verpflichtet werden, Schulungen und Kurse für pflegende Angehörige anzubieten, und zudem soll es striktere Vorgaben für die Pflegekassen zur Pflegeberatung geben. Diese soll neu strukturiert und die Informationspflicht ausgeweitet werden. Auch hier war in der Vergangenheit immer wieder bemängelt worden, dass solche Angebote a) bei den Anspruchsberechtigten nicht bekannt seien und b) von den Pflegekassen, die Beratende und Leistungserbringer in einer Person sind, nicht adäquat angeboten würden.

Wer ab jetzt pflegebedürftig wird, wird nach neuem System eingestuft

Wenn das Gesetz in Kraft tritt, sollen zunächst diejenigen, die zum ersten Mal Pflegeleistungen in Anspruch nehmen, nach den neuen Vorgaben eingestuft werden. Diejenigen rund 2,8 Millionen Pflegebedürftigen, die bereits heute Leistungen erhalten, sollen dann zum Starttermin Anfang 2017 laut Entwurf „ohne erneute Begutachtung reibungslos in das neue System übergeleitet werden“ – und, wie der Pflegebeauftragte der Bundesregierung,  Karl-Josef Laumann, kürzlich in einem Interview betont hat, „automatisch in einem höheren Pflegegrad eingestuft werden“.

Auch für die Pflegeheime wird sich einiges ändern: Die Veränderungen in den Einstufungen, die für die Bewohner zu erwarten sind, haben Konsequenzen für die Ausstattung der Einrichtungen. Es ist aufgrund der Neueinstufungen unter Umständen eine andere Personalstruktur notwendig, neue Verträge müssen verhandelt werden.

Kommentar

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