Krebstherapie am Lebensende: Chemo ist nicht immer eine gute Wahl

Dr. Ingrid Horn

Interessenkonflikte

7. August 2015

Palliative Chemotherapie kann nur dazu dienen, die Lebensqualität für den Patienten in der Phase des nahen Todes zu erhöhen und vielleicht sein Leben zu verlängern. Ein guter Allgemeinzustand von Patienten mit soliden Tumoren liefert jedoch keine Garantie dafür, dass dies auch erreicht wird.

Zu dieser Erkenntnis kommt eine Arbeitsgruppe um Dr. Holly G. Prigerson vom Weill Cornell Medical College in New York, die ihre Ergebnisse aus einer Kohortenstudie in JAMA Oncology veröffentlicht hat [1]. Sie stellt sogar fest, dass Patienten mit gutem Allgemeinzustand eine Chemotherapie gegen Lebensende schadet.

Kein Anlass für neue Leitlinien

Prof. Dr. Norbert Frickhofen

Die Studienergebnisse bieten Dr. Charles D. Blanke und Dr. Erik K. Fromme von der Oregon Health and Science University in Portland allerdings keinen ausreichenden Anlass, zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Leitlinien zu ändern und von einer palliativen Chemotherapie für alle Krebspatienten generell abzuraten, wie sie im Editorial schreiben [2] „Wir sollten vielmehr Patienten mit metastasierendem Krebs helfen, in diesem traurigen, aber unvermeidlichen Stadium gute Entscheidungen zu treffen“, fordern sie ihre Kollegen auf. Keinesfalls sollten sie aber dazu beitragen, das Leiden zu verstärken.

Prof. Dr. Norbert Frickhofen von den Dr. Horst-Schmidt-Kliniken in Wiesbaden sieht die Kernaussage von Prigersons Studie besonders kritisch. „Die Studie ist eine reine Beobachtungsstudie und damit ungeeignet, die Lebensqualität vor dem Tod mit und ohne Chemotherapie zu vergleichen“, sagt der Direktor der Klinik Innere Medizin III gegenüber Medscape Deutschland. Diese könne nur eine im Hinblick auf den Allgemeinzustand randomisierte Studie, die natürlich so nicht durchführbar sei.

Ähnlich wie die US-Kommentatoren hält Frickhofen die Forderung nach neuen Leitlinien für unangebracht und verweist dabei auf folgenden Umstand: Bei keinem der Patienten waren vorausgegangene Chemotherapien von therapeutischem Nutzen. „Bei solchen Patienten“, so der Onkologe und Palliativmediziner, „rät die Leitlinie der American Society of Clinical Oncology (ASCO) eindeutig von weiteren gegen den Krebs gerichteten Maßnahmen ab.“

Lebensqualität durch Auskunft der Betreuer ermittelt

 
Die Studie ist eine reine Beobachtungsstudie und damit ungeeignet, die Lebensqualität vor dem Tod mit und ohne Chemotherapie zu vergleichen. Prof. Dr. Norbert Frickhofen
 

Die Ergebnisse der Kohorten-Studie basieren auf 312 Patienten aus den Jahren 2002 bis 2008, die an unterschiedlichen metastasierenden Karzinomen erkrankt waren, erfolglos mit mindestens einer Chemotherapie vorbehandelt waren und deren Lebenserwartung maximal 6 Monate betrug. Sie stammten aus 6 US-Kliniken und starben im Mittel  3,8 Monaten nachdem sie in die Studie eingeschlossen worden waren.

Ihr Allgemeinzustand wurde zu Beginn der Studie anhand den Kriterien der Eastern Cooperative Oncology Group (ECOG) ermittelt. Er galt als gut bei einem ECOG-Wert von 0 bzw. 1 und repräsentierte Patienten, die noch laufen und leichte Arbeit verrichten konnten. ECOG 2 stand für Patienten, die sich noch selbst versorgen konnten, aber weder gehfähig noch arbeitsfähig waren, während sich Patienten mit ECOG 3 nur noch eingeschränkt selbst versorgen konnten und die meiste Zeit sitzend oder liegend verbrachten.

Die Lebensqualität in der letzten Lebenswoche erfragten die Autoren der Studie nach dem Tod bei den Betreuern, die den Patienten am nächsten gestanden hatten. Sie erhoben dabei per Fragebogen Angaben zum körperlichen und geistigen Befinden der inzwischen Verstorbenen.

In keinem Fall besserte sich die Lebensqualität am Lebensende

Palliative Chemotherapie erhielten entsprechend den ASCO-Leitlinien bei metastasierendem Krebs vorzugsweise Patienten, die sich in einem guten Allgemeinzustand befanden, schreiben die Autoren. „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass anhand dieser Leitlinien diejenigen Patienten identifiziert werden, denen eine Chemotherapie am ehesten schadet“, meint Prigerson in JAMA Oncology. Denn in ihrer Studie verschlechterte sich die Lebensqualität dieser Patientengruppe in der letzten Lebenswoche signifikant gegenüber der Patientengruppe, die keine palliative Chemotherapie erhalten hatte (Odds Ratio 0,35; 95%-Konfidenzintervall: 0,17–0,75; p = 0,01).

Bei Patienten mit mäßigem Allgemeinzustand (ECOG 2) bzw. schlechtem Allgemeinzustand (ECOG 3) blieb die Chemotherapie ohne Auswirkung auf die Lebensqualität am Lebensende.

Ehrliche Kommunikation zwischen Arzt und Patient hilft weiter

Nach Ansicht von Blanke und Fromme wirft die Studie von Prigerson viele Fragen auf, beispielsweise werde Chemotherapie dort nicht definiert. „Wir wissen nicht, warum einige Patienten Chemotherapie erhalten haben und andere nicht“, schreiben sie weiter. Bekannt sei lediglich, dass Patienten in akademischen Zentren eher eine systemische Therapie erhalten als in anderen Einrichtungen.

 
Wir Ärzte haben es in der Hand, die Situation zu entschärfen, indem wir uns mehr an die bestehenden Leitlinien halten. Prof. Dr. Norbert Frickhofen
 

Den Wert der Arbeit sehen sie vielmehr darin, dass die Autoren die gängige Praxis anklagen, Krebspatienten im Finalstadium routinemäßig Chemotherapie anzubieten. Dies dürfte auch in Deutschland der Fall sein und werde mit Recht kritisiert, meint Frickhofen gegenüber Medscape Deutschland. „Wir Ärzte haben es in der Hand, die Situation zu entschärfen, indem wir uns mehr an die bestehenden Leitlinien halten.“

Häufig verlangten Patienten oder Angehörige nach einer Chemotherapie am Lebensende in der Hoffnung, dass der Kranke noch ein wenig länger lebe, geben die US-Kommentatoren zudem zu bedenken. Deshalb ist es sowohl für sie als auch für Frickhofen, der derzeit Sprecher der Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Onkologie in der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin ist, wichtig, bei einer bevorstehenden Therapieentscheidung mit dem Patienten ein offenes und ehrliches Gespräch über die Chancen und Risiken zu führen. Denn ein umfassend informierter Patient überwinde eher seine Angst vor dem Tod durch den Tumor, weiß der Wiesbadener Onkologe.

 

REFERENZEN:

1. Prigerson HG et al: JAMA Oncology online; 23.07.2015

2. Blanke CD, Fromme EK: JAMA Oncology online; 23.07.2015

 

 

Kommentar

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