Psychische Langzeitfolgen bei Beschneidung im Vorschul- bis Grundschulalter
Im Vorschul- bis Grundschulalter, informiert Eckert, seien die Verklebungen zum Teil aufgelöst. Gerade in diesem Alter entwickeln Jungen jedoch naturgemäß einen besonderen Bezug zu ihrem Geschlechtsteil, sodass jede unbefugte Manipulation daran unterbleiben sollte. „Wir wissen inzwischen, dass es nicht nur körperliche, sondern auch psychologische Langzeitfolgen operativer Eingriffe am Penis geben kann“, so der Kinderchirurg, „und dass wir diese lange unterschätzt haben.“

Prof. Dr. Matthias Franz
Diesen Eindruck bestätigt Prof. Dr. Matthias Franz, Facharzt für Psychosomatische Medizin und stellvertretender Direktor des Klinischen Instituts für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Düsseldorf. 2014 veröffentlichte er ein Fachbuch zum Thema Beschneidung von Jungen. „Die später beschnittenen Jungen im Alter zwischen vier und sechs Jahren willigen aus Liebe zu den Eltern ein, sie simulieren Einverständnis, weil sie spüren, dass ihre Eltern das brauchen“, berichtet er. „Dennoch empfinden sie den Eingriff oft als Kastrationsandrohung. Viele habe ich als Erwachsene mit schwerwiegenden Folgen wie Ängsten, sexuellen Funktionsstörungen und Problemen in der Partnerschaft als Patienten kennengelernt.“
Unabhängig vom Beschneidungszeitpunkt sind auch Probleme mit der Narbenbildung, Beschwerden bei Erektionen und eine herabgesetzte Schmerzschwelle zu beobachten. Franz fordert darum: „Erwachsene haben an den Genitalien von Kindern nichts zu suchen – unabhängig davon, ob die Kinder männlich oder weiblich sind! Es gibt keinen medizinischen Grund dafür, einem gesunden Jungen seine gesunde Vorhaut abzuschneiden. Deshalb sollten Ärzte diesen Eingriff auch nicht durchführen, keine Gefälligkeits- oder Scheindiagnosen stellen und Krankenkassen sollten auch nicht dafür aufkommen.“ Das richtige Alter für eine Zirkumzision ohne medizinische Indikation beginnt für Franz mit der selbständigen Einwilligungsfähigkeit „ab 18 Jahre“.
Umfassendere Elternberatungen notwendig
Alle 3 Mediziner fordern unisono umfassendere Elternberatungen als bisher üblich – „und zwar ohne dass wir Ärzte in eine intolerante, ausländerfeindliche, gar rassistische oder noch schlimmere Ecke gestellt werden“, wie Eckert befürchtet. Er betont, dass in seiner Klinik alle Familien, ohne Blick auf Kultur und Glauben, auf dieselbe Weise und medizinisch korrekt betreut werden.
„Wir sehen in die Windel beziehungsweise die Unterhose. Wenn alles gesund aussieht, fragen wir nach Problemen beim Wasserlassen und nach Entzündungen. Und wenn die Eltern sagen, ja, das ist immer mal wieder entzündet, das muss weg, bitten wir die Eltern, sich mit dem Kind bei akuten Beschwerden erneut vorzustellen.“ Viele verschieben daraufhin den Eingriff, verzichten – oder wechseln womöglich erst einmal die Klinik. Auf jeden Fall gab es im ersten Quartal 2014 noch 70 Zirkumzisionen von Kindern und Jugendlichen im Elisabeth-Krankenhaus, im selben Zeitraum 2015 nur noch 11.
Eltern, die offensichtlich eine Zirkumzision wünschen, obwohl aus medizinischer Sicht nichts dafür spricht, erklärt Eckert, welche negativen Folgen der Eingriff für den Sohn haben kann, wenn er erst einmal sexuell aktiv ist. Manchmal, berichtet er, reagieren die Eltern dann enttäuscht bis zornig. Manchmal läuft es auch ganz anders.
Der Kinderchirurg erzählt von einem 8-Jährigen, der mit Mutter und Tante in die Klinik kam, beide Frauen dem äußeren Anschein nach muslimisch. „Bei dem Jungen konnte ich keine Hinweise auf eine pathologische Phimose finden und sagte, dass eine Beschneidung nicht notwendig sei“, so Eckert. „Die Mutter und die Tante meinten, das sei in Ordnung. Ich war überrascht und fragte, ob sie denn nicht muslimisch wären und sich keine Beschneidung wünschten. Da antworteten die Frauen: Ja, wir sind muslimisch. Aber im Koran wird keine Beschneidung vorgeschrieben, man muss es nicht machen.“
Hat Beschneidung medizinische Vorteile?
Und wenn die Eltern über wissenschaftliche Erkenntnisse zur Zirkumzision reden möchten? Es gibt Untersuchungen, denen zufolge beschnittene Männer sich seltener mit HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten anstecken. „Erstens haben diese Studien deutliche Mängel“, kritisiert Franz. „Zweitens muss man, um solche Ansteckungen zu verhindern, nicht bereits im Kindesalter beschneiden.“ Drittens gebe es inzwischen weitere Studien zu negativen Konsequenzen von Zirkumzisionen im Kindesalter.
Eine große dänische Analyse zeige, dass beschnittene Männer seltener ein erfülltes Sexualleben haben als andere. Die zweite, kürzlich publizierte Studie desselben Erstautors verweise auf einen möglichen Zusammenhang zwischen der Beschneidung im Kindesalter und ADHS- beziehungsweise Autismus-Diagnosen. „Da sind natürlich noch viele Fragen offen“, beurteilt Franz diese neue Studie. „Das ist als ein allererster Hinweis auf mögliche Assoziationen zu werten. Aber sowohl ADHS als auch Entwicklungsstörungen des autistischen Formenkreises haben multifaktorielle Ursachen. Dass das Trauma durch eine Zirkumzision dazugehört, würde ich nicht ausschließen.“
Diesen Artikel so zitieren: Beschneidungen von Jungs? Nur bei medizinischer Indikation! – Mit welchen Argumenten Ärzte Zirkumzisionen ablehnen - Medscape - 4. Aug 2015.
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