
Dr. Kolja Eckert
„Warum eine Klinik in Essen Beschneidungen verweigert“ und „German hospital working to deter parents from circumcising“, titelten Ende Juli Medien aus Deutschland und Israel. Dr. Kolja Eckert, Oberarzt der Klinik für Kinderchirurgie des Elisabeth-Krankenhauses Essen – der Klinik, um die es geht – ist noch immer erstaunt über das große mediale Echo.
„Die Überschriften sind natürlich bewusst provokant“, kritisiert Eckert, „und teilweise nicht korrekt – wir machen schon Beschneidungen bei Jungen, aber eben nur, wenn diese medizinisch notwendig sind.“ Diese fänden möglichst nicht vor dem ersten Geburtstag der Kinder statt und zumeist erst nach dem Versagen anderer, z.B. medikamentöser Therapien. So ließ sich die Zahl der Beschneidungen im Elisabeth-Krankenhaus binnen zweier Jahre um etwa 90% senken, schätzt Eckert.
Diagnose ,behandlungsbedürftige Phimose‘ lange zu großzügig gestellt
Der Kinderchirurg betont, dass ihn 2 Dinge dazu brachten, sich intensiver mit dem Aufbau und der Funktion des Präputium penis zu beschäftigen: Erstens im Jahr 2012 die Diskussion, die in der Einführung des Beschneidungsparagraphen §1631d BGB gipfelte. Inzwischen erklärt Eckert den Eltern, dass das Präputium 70 bis 80% der Nervenendigungen enthält, die für das männliche sexuelle Lustempfinden zuständig sind – „es ist damit ein funktionell wichtiges Organ, sage ich dann, das nicht ohne guten Grund entfernt werden sollte. Die Eichel kann von ihrer nervalen Ausstattung her nur einen Bruchteil der Empfindungen aufnehmen und weiterleiten.“
Zweitens sensibilisierte Eckert die Entwicklung seiner eigenen kleinen Söhne, heute 6 und 9 Jahre alt, für das Thema. Ihnen, so Eckert, bleibe voraussichtlich trotz noch nicht vollständig retrahierbarer Vorhaut eine Beschneidung erspart. „Diese Entscheidung war natürlich zuerst empathisch getragen, aber warum sollte sie nicht auch meinen Patienten zugute kommen?“, fragt der Kinderchirurg und kritisiert: „Im Medizinstudium erfährt man nicht, wozu die Vorhaut da ist, und in der Facharztausbildung lernt man nur, wie man sie abschneidet.“
Viele Familien, die kulturell bedingt eine Zirkumzision ihres Sohnes wünschen, kommen auf Überweisung ihres Kinderarztes in die Klinik, um den Verdacht auf eine Phimose abklären zu lassen. Dabei sei den Eltern, aber auch vielen Medizinern nicht bewusst, dass eine physiologische Vorhautenge sich bis in die Pubertät hinein von alleine zurückbilden könne. „Früher wurde die Diagnose einer ,behandlungsbedürftigen Phimose‘ viel zu großzügig gestellt, so wohl auch bei uns“, vermutet Eckert.
Er wertete eigene Klinikdaten aus den Jahren 2007 bis 2012 aus. Das Ergebnis: Die Patienten wurden in einem durchschnittlichen Alter von 4 Jahren zirkumzidiert. „Das ist aus heutiger Sicht viel zu früh und zum Großteil einer eher wohlwollenden und entgegenkommenden Diagnosestellung geschuldet“, resümiert Eckert. Das Team der Kinderchirurgie entschloss sich „vor etwa zwei bis drei Jahren“, die Indikationen zur Phimose-OP fortan weitaus strenger zu stellen.
„Wir richten uns dabei nach der gültigen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie“, so Eckert, „die eine pathologische Phimose eindeutig von einer physiologischen, also normalen, Vorhautverengung unterscheidet.“ Vorhautverengungen, die keine Entzündungen oder Schwierigkeiten beim Wasserlassen nach sich ziehen, können bis zur Pubertät toleriert werden. „Gibt es vorher Schwierigkeiten, therapieren wir ein-, manchmal auch zweimal mit corticoidhaltiger Salbe“, informiert der Kinderchirurg. „Wo das nicht ausreicht, sind vorhauterhaltende Operationen einer Zirkumzision vorzuziehen.“

Dr. Wolfgang Bühmann
Es blieben nur wenige Patienten, bei denen sich eine pathologische Phimose zeige, z.B. infolge einer stark vernarbten Vorhaut oder eines Lichen sclerosus. Bei diesen Jungen bleiben andere Behandlungen meist erfolglos. Eckert betont: „Nach Ausschöpfung aller konservativen Therapieoptionen handeln wir dann auch zum Wohl des Patienten, wenn wir beschneiden.“
Mit dieser Entscheidung gehe das Elisabeth-Krankenhaus keineswegs einen Sonderweg, informiert der Kinderchirurg. 2 Klinikteams kennt er allein in Nordrhein-Westfalen, die es ebenso handhaben. Auch niedergelassene Urologen widersetzen sich solchen Eingriffen ohne medizinische Indikation, betont Dr. Wolfgang Bühmann.
Rituelle Beschneidung unter Strafe?
Bühmann hat eine urologische Privatpraxis auf Sylt. Zur rituellen Beschneidung merkt er an: „Ich weiß, dass unter Urologen kein Konsens zu diesem Thema herrscht, und dass Kollegen sagen: ‚Lieber mache ich das, als dass es in einem Hinterhof geschieht‘.“
Bühmann hält das allerdings für falsch „Wer eine medizinisch nicht indizierte, rituell motivierte Beschneidung durchführt, begeht eine körperliche und seelische Verletzung an einem nicht einwilligungsfähigen Kind. Das steht in krassem Widerspruch zur in den ersten Artikeln unseres Grundgesetzes garantierten Unantastbarkeit der Würde, zur körperlichen Unversehrtheit und zur Religionsfreiheit – eine solche Zuwiderhandlung gehört unter Strafe gestellt, wenn Vernunft und Respekt es nicht ohnehin gebieten.“
Auch neugeborene empfinden Schmerzen
In den USA wird mehr als jeder zweite Junge in den ersten Lebenstagen zirkumzidiert, meistens ohne Betäubung. „Dabei ist seit mehr als 3 Jahrzehnten wissenschaftlich belegt, dass Neugeborene Schmerzen empfinden“, gibt Bühmann zu bedenken. Man habe stark erhöhte Cortisolspiegel nachgewiesen, viele der Säuglinge verfielen in eine Schockstarre.
Auch sei längst bekannt, dass keine Lokalanästhesie die Schmerzen, die bei der Zirkumzision entstehen, auch nur annähernd angemessen lindere. Im Elisabeth-Krankenhaus Essen wird darum bei jeder Beschneidung eine Vollnarkose vorgenommen. Deren Risiken speziell für Säuglinge sorgten dafür, dass in der Klinik nur nach strengster medizinischer Indikationsstellung vor dem ersten Geburtstag zirkumzidiert wird.
Bei 96% aller Neugeborenen sind Präputium penis und Glans verklebt – und sie bleiben es einige Jahre lang. „So schützt die Vorhaut die Eichel vor Urin und Verschmutzungen“, betont Bühmann. Für Kleinkinder gilt laut Eckert: „Wenn wir die physiologische Verklebung lösen, entsteht zwangsläufig eine Art Schürfwunde an der Eichel, die brennt und weh tut, und das über ein bis zwei Wochen hinweg. Hinzu kommen oft ödematöse Schwellungen und manchmal auch geringe Nachblutungen.“
Diesen Artikel so zitieren: Beschneidungen von Jungs? Nur bei medizinischer Indikation! – Mit welchen Argumenten Ärzte Zirkumzisionen ablehnen - Medscape - 4. Aug 2015.
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