Taiwanesische Wissenschaftler warnen vor dem unkritischen Einsatz von Allopurinol bei Patienten mit asymptomatischer Hyperurikämie und renalen oder kardiovaskulären Begleiterkrankungen. Im JAMA Internal Medicine berichten sie über seltene, aber potentiell tödliche Überempfindlichkeitsreaktionen [1].
Laut ihrer retrospektiven Populationsstudie mit fast 500.000 taiwanesischen Erstanwendern des Urikostatikums wies diese Patientengruppe ein signifikant erhöhtes Risiko für schwere Arzneimittel-Nebenwirkungen und eine signifikant erhöhte Mortalität auf.
Erhöhte Harnsäurewerte allein erfordern nicht zwingend eine Therapie
Dr. Rachel J. Stern, Autorin einer Editor’s Note im Fachblatt, sieht die Ergebnisse von Chien-Yi Yang, Chang Gung Memorial Hospital in Taoyuan, Taiwan, und seinen Co-Autoren als „eine wichtige Erinnerung, den Empfehlungen des American College of Rheumatology zu folgen“ [2]. Demnach sollte u.a. erst mit einer Allopurinol-Therapie begonnen werden, wenn mehr als 2 Gichtattacken pro Jahr auftreten oder bereits Tophi vorhanden sind. Dies erscheine auch vor dem Hintergrund bedeutsam, dass in der Studie 42,5% der Allopurinol-Erstanwender noch keine klinisch symptomatische Gicht entwickelt hatten.

Prof. Dr. Ulf Müller-Ladner
Auch Prof. Dr. Ulf Müller-Ladner, Ärztlicher Direktor der Abteilung für Rheumatologie und Klinische Immunologie an der Kerckhoff-Klinik in Bad Nauheim, verweist in dem Zusammenhang auf die von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) herausgegebene Leitlinie zur Therapie der chronischen Gicht. Demzufolge stellt eine erhöhte Serumharnsäure ohne Folgeerkrankung wie Gicht und Urolithiasis keine zwingende Indikation zur medikamentösen Therapie dar. „In den in Kürze publizierten Leitlinien zur Gicht der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie wird ebenfalls eine Empfehlung zu dieser Situation enthalten sein“, kündigt er an.
Gibt es ein bislang unterschätztes Sicherheitsrisiko?
Ob sich aus der vorliegenden Studie nun aber ein bislang unterschätztes Sicherheitsrisiko im Zusammenhang mit der Anwendung von Allopurinol ableiten lässt, bezweifelt er gegenüber Medscape Deutschland. So hätten Yang und seine Kollegen etwa die tatsächlichen Todesursachen der Patienten nicht dokumentieren können. „Immerhin sind Herz- und Nierenerkrankungen ebenfalls mit einer gewissen Mortalität verbunden“, sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie. „Genauso wie die Gicht selbst.“
Nicht untersucht worden sei auch, wie viele der beobachteten Überempfindlichkeitsreaktionen auf einer genetischen Ursache beruhten, soMüller-Ladner. Tatsächlich ist bekannt, dass Menschen mit Han-Chinesischer Herkunft, die etwa 95% der taiwanesischen Population ausmachen, vergleichsweise häufig unter schweren Nebenwirkungen wie dem Stevens-Johnson-Syndrom oder einer toxisch epidermalen Nekrolyse leiden.
Grund ist das mit dem Überempfindlichkeitssyndrom assoziierte Allel HLA-B*5801, welches bei etwa 20% der Han-Chinesen vorhanden ist, aber z.B. nur bei 1 bis 2% der Europäer/Weißen. Allerdings gibt es in Taiwan erst seit 2011 die Möglichkeit, das Allel in medizinischen Zentren zu testen. Jedoch in diesem Jahr endete bereits der 7-jährige Beobachtungszeitraum der Studie von Yang und Kollegen.
„Eine Übertragung der Studienergebnisse auf die Bevölkerung anderer Länder ist deshalb nicht ohne weiteres möglich“, sagt Müller-Ladner.
Welche Bedeutung haben nicht-genetische Riskofaktoren?
Yang und seine Co-Autoren mussten sich in ihrer Studie denn auch auf die Untersuchung nicht-genetischer Risikofaktoren in der taiwanesischen Patientenpopulation konzentrieren. Denn völlig unbekannt sind die Überempfindlichkeitsreaktionen auch nicht in anderen ethnischen Bevölkerungsgruppen.
Eine US-Studie errechnete beispielsweise 2013 eine Inzidenz von 0,69 Hospitalisierungen auf 1.000 Personenjahre bei Allopurinol-Erstanwendern. Als besonderen Risikofaktor ermittelten sie dabei eine hohe initiale Dosierung von mehr als 300 mg/Tag. Aber auch eine Niereninsuffizienz erhöht aufgrund der gestörten Arzneimittelausscheidung die Gefahr von Nebenwirkungen.
Die taiwanesische Untersuchung sollte nun mehr Klarheit über die tatsächliche Inzidenz der Nebenwirkungen in der taiwanesischen Patientenpopulation und die Mortalität im Zusammenhang mit Verwendung des Urikostatikums liefern. Über die Taiwan National Health Insurance Research Database hatten die Wissenschaftler Zugriff auf die Daten von 495.863 Allopurinol-Erstanwendern (keine Verschreibung in den vergangenen 3 Jahren) aus den Jahren 2005 bis 2011.
Überempfindlichkeitsreaktionen wie unspezifische Erytheme, Dermatitis oder ein Stevens-Johnson-Syndrom wurden von ihnen in einem Zusammenhang mit der Allopurinol-Anwendung gewertet, wenn sie innerhalb von 3 Monaten nach der ersten Einnahme des Mittels auftraten. Hospitalisierungen wurden zudem als Folge der Arzneimittelanwendung angesehen, wenn sie innerhalb eines Monats nach der Erstanwendung dokumentiert wurden. Die Allopurinol-assoziierte Mortalität bezog sich ferner auf Todesfälle, die innerhalb von 2 Monaten nach einer Überempfindlichkeitsreaktion auftraten.
Als mögliche (nicht-genetische) Risikofaktoren überprüften Yan und Kollegen das Alter der Patienten, ihr Geschlecht, die initiale Allopurinol-Dosierung (niedrig: ≤ 100 mg/Tag; hoch > 100 mg/Tag), Komedikationen (z.B. Antibiotika oder Diuretika), Komorbiditäten (chronische Nieren- oder kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes, Krebs) sowie die Anwendung von Allopurinol bei asymptomatischer Urikämie, d.h. ohne Gichtdiagnose per ICD-9-CM Code.
Ärzte sollten Empfehlungen folgen – und auf genetische Risikofaktoren testen
Als erstes Ergebnis ließ sich festhalten, dass auch bei den taiwanesischen Patienten die Inzidenz der Überempfindlichkeitsreaktionen mit 4,68 Fällen pro 1.000 Neu-Anwendern gering war. In dem 7-jährigen Beobachtungszeitraum zählten die Autoren zudem 2,02 Allopurinol-assoziierte Hospitalisierungen und 0,39 Sterbefälle pro 1.000 Neu-Anwender.
Weibliche Patienten sowie Patienten ab einem Alter von 60 Jahren mit einer initialen Allopurinol-Dosierung von über 100 mg/Tag oder renalen bzw. kardiovaskulären Begleiterkrankungen wiesen dabei laut ihrer Berechnungen insgesamt ein erhöhtes Nebenwirkungsrisiko auf.
Statistisch signifikante Resultate zeigten sich jedoch nur bei Patienten mit asymptomatischer Hyperurikämie und renalen und kardiovaskulären Begleiterkrankungen. Bei dieser Patientengruppe ließ sich sowohl ein signifikant erhöhtes Risiko für die Überempfindlichkeitssyndrome als auch eine signifikant erhöhte Mortalität nachweisen.
„Ärzte sollten vorsichtig sein bei der Verschreibung von Allopurinol an Patienten im fortgeschrittenen Alter, mit kardiovaskulären Erkrankungen oder gestörter Nierenfunktion“, schreiben Yang und sein Kollegen deshalb; bzw. sie sollten den internationalen Empfehlungen folgen, meint Stern; und bestimmte ethnische Risikogruppen auf das Allel HLA-B*5801 testen.
REFERENZEN:
1. Yang CY, et al: JAMA Intern Med. (online) 15. Juli 2015
2. Stern, RJ: JAMA Intern Med. (online) 20 July 2015
Diesen Artikel so zitieren: Allopurinol bei erhöhten Harnsäurewerten: Große Populationsstudie findet erhöhtes Risiko für schwere Nebenwirkungen - Medscape - 3. Aug 2015.
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