Große Geschwisterstudie entlastet Sectio: Der Kaiserschnitt ist kein Risikofaktor für Autismus

Petra Plaum

Interessenkonflikte

23. Juli 2015

Mütter, die ihre Kinder per Kaiserschnitt zur Welt bringen, erhöhen deren Autismus-Risiko nicht. Das zeigt die große schwedisch-irische Registerstudie, deren Ergebnisse gerade im Journal JAMA Psychiatry veröffentlicht wurden [1].

Frühere Arbeiten wiesen zwar darauf hin, dass Kaiserschnittkinder häufiger eine Autismusdiagnose erhalten. Allerdings handelt es sich um bloße statistische Assoziationen. „Die Assoziation blieb jedoch nicht bestehen, wenn Geschwister als Kontrollgruppe betrachtet wurden“, lautet das Fazit des Autorenteams um Eileen A. Curran am Department of Obstetrics and Gynaecology am University Maternity Hospital im irischen Cork.

Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst

„Die Datengrundlage der Studie ist hervorragend, das Design sehr sorgfältig, alle relevanten Faktoren wurden untersucht. Man kann nun sagen: Der Kaiserschnitt an sich spielt als Risikofaktor keine Rolle mehr“, wertet Prof. Dr. Christine Freitag, Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters am Universitätsklinikum Frankfurt am Main.

Für Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst, den stellvertretenden ärztlichen Direktor und leitenden Oberarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg, setzt die Arbeit auch endlich einen Schlussstrich unter viele Vorurteile: „Mit Schlussfolgerungen wie ,Kaiserschnitte führen zu Autismus‘ hätten Wissenschaftler und Medien vorher schon vorsichtig sein sollen. Hier werden noch zu oft Symptome gezählt, statt kausale Zusammenhänge zu suchen.“

Autismus: Keine Frage der Geburtsart 

 
Man kann nun sagen: Der Kaiserschnitt an sich spielt als Risikofaktor keine Rolle mehr Prof. Dr. Christine Freitag
 

Die Autoren griffen für ihre Berechnungen auf das Swedish Medical Birth Register, das Swedish National Patient Register und das Swedish Multi-Generation Register zu – hier sind über 99% der seit 1982 in Schweden lebend geborenen Personen erfasst. Bis Ende 2010 wurden 2.697.315 Menschen darin aufgenommen, 28.290 davon erhielten die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Für 13.411 der Patienten war ein Vergleich mit Geschwistern ohne ASS möglich. Insgesamt konnten 2.555 Geschwisterpaare mit unterschiedlichem Geburtsmodus einbezogen werden.  

Wert legten die Wissenschaftler auf die statistische Bereinigung von Confoundern: Risikofaktoren für ASS sind u.a. höheres Alter der Mutter, männliches Geschlecht, Frühgeburtlichkeit, psychische Erkrankungen der Eltern und niedrige Apgar-Werte nach der Geburt – diese Kinder haben per se eine höhere Wahrscheinlichkeit, an einer autistischen Störung zu erkranken. Da Hypoxie unter der Geburt ebenfalls häufiger mit ASS einhergeht, wurden auch Notkaiserschnitte und vaginal-operative Geburten analysiert.

Bei den Notkaiserschnitten zeigte sich vor Bereinigung um Störfaktoren ein signifikant erhöhtes Risiko für die auf diese Weise geborenen Kinder (Odds Ratio: 1,20; 95%-Konfidenzintervall: 1,06–1,36). Nach der Bereinigung um Störfaktoren war die Assoziation verschwunden (OR: 0,97; 95%-KI: 0,85–1,11). Ähnlich beim elektiven Kaiserschnitt: Vor der Bereinigung betrug die Odds Ratio 0,97 (95%-KI: 0,85–1,11), danach 0,89 (95%-KI: 0,76–1,04).

Und ebenso sah es bei den vaginal-operativen Entbindungen mittels Zange oder Saugglocke aus – kein erhöhtes ASS-Risiko für diese Babys im Vergleich zu dem normal vaginal entbundenen Geschwisterkind (OR: 1,04; OR nach Bereinigung um Confounder: 0,91).

Was war zuerst da, Autismus oder Sectio?

 
Mit Schluss- folgerungen wie ,Kaiserschnitte führen zu Autismus‘ hätten Wissen- schaftler und Medien vorher schon vorsichtig sein sollen. Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst
 

Wie kommt es dann, dass Autisten überdurchschnittlich oft per Sectio zur Welt kommen, wie erst im Mai eine Metaanalyse der gleichen Arbeitsgruppe aus Cork zeigen konnte?

Tebartz van Elst empfiehlt für eine saubere Analyse, allgemein zwischen primärem und sekundärem, also erworbenem, Autismus zu unterscheiden. Als primär sieht er alle Fälle von ASS an, bei denen es eine familiäre Häufung autistischer Strukturierungen gibt – teilweise auch ohne Krankheitswert. Sekundäre ASS gehen ihm zufolge stattdessen auf identifizierbare Ursachen wie Gendefekte, Geburtskomplikationen und relevante Erkrankungen vor oder nach der Geburt zurück. Um Confounder bereinigte Daten wie die aktuellen helfen dabei, solche bereits angelegten Ursachen von dem Einfluss des Geburtsmodus zu bereinigen, wie die aktuelle Analyse überzeugend belegt.

Einige Faktoren, die einen Autismus begünstigen, begünstigen gleichzeitig eine operative Entbindung. Bei älteren Müttern kommt es sowohl häufiger zu genetischen Mutationen, die zu ASS führen können, als auch zu mehr Kaiserschnitten. Als ein weiterer Risikofaktor für ASS gilt inzwischen Gestationsdiabetes. Da betroffene Schwangere zu sehr großen Kindern und protrahierten Geburtsverläufen neigen, kommt es in dieser Kohorte auch vermehrt zu Kaiserschnitten. Entweder schon von vorneherein, weil das Kind als zu schwer gilt, oder, weil sich die Geburt verzögert, da Diabetikerinnen nicht so gut auf Wehenmittel ansprechen, wie dies an einer Studie mit Uterusmyozyten von Diabetikerinnen gezeigt werden konnte. Diabetes der Mutter ist also das Bindeglied, der Confounder: Er führt zu mehr Autismus und zu mehr Kaiserschnitten.

 
Genetisch bedingter Autismus geht in 20 bis 30 Prozent der Fälle mit einem größeren Kopfumfang einher. Prof. Dr. Christine Freitag
 

Es gibt aber auch weitere, weniger bekannte Gründe, warum eine Veranlagung zum Autismus häufiger mit Sectio einhergeht: „Genetisch bedingter Autismus geht in 20 bis 30 Prozent der Fälle mit einem größeren Kopfumfang einher“, gibt Freitag zu bedenken. In Bezug auf andere Betroffene ergänzt sie: „Wir wissen inzwischen, dass sowohl die Mutter als auch das Kind mitarbeiten müssen, damit die vaginale Geburt gelingt. Den von vornherein autistischen Kindern gelingt die Mitarbeit oft unzureichend, der Geburtsverlauf ist dann protrahiert.“ Diese Babys brauchen die Sectio, um ohne weitere Schäden zur Welt zu kommen – damit ist die Sectio nicht Ursache, sondern Folge einer angelegten autistischen Störung.

Für Tebartz van Elst ist diese Assoziation auch aus anderen Gründen nicht verwunderlich: Vielleicht wählten autistisch strukturierte Mütter auch eher einen Kaiserschnitt als andere. „Es kann gut sein, dass sie eher Ängste in Hinblick auf eine natürliche Geburt entwickeln als nicht autistisch strukturierte Mütter, und dass sie davon ausgehen, dass bei einer Sectio alles unter Kontrolle ist.“ Diese Mütter geben das Autismus-Risiko weiter – aber verursachen es nicht durch eine Sectio.

Besser Therapien evaluieren statt Schuldgefühle schüren

Freitag lobt, dass die Studie von Curran und ihrem Team dazu beiträgt, Eltern autistischer Kinder Schuldgefühle zu nehmen. „Wichtig wären jetzt randomisierte Studien zur frühen Diagnostik und zu Therapieangeboten“, merkt sie an. „Hierzu herrscht vor allem in Deutschland noch ein großer Mangel.“

Tebartz van Elst bedauert, dass die aktuelle Ursachenforschung noch nicht auf die Vielfalt der Erkrankungen des autistischen Formenkreises eingeht. Früher habe man viele Betroffene gar nicht als Autisten wahrgenommen, informiert er – „erst seit kurzem weiß man zum Beispiel, dass fünf bis zehn Prozent aller Frauen mit der Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung eine ASS haben“. Außerdem gelte: „Dem primären Autismus können Sie nicht vorbeugen, er ist schicksalhaft. Und beim erworbenen Autismus lassen sich Risiken für Infektionen in der Schwangerschaft, Sauerstoffmangel und Enzephalitiden beim Kind allenfalls vermindern, nicht komplett ausschalten.“

 

REFERENZEN:

1. Curran EA, et al: JAMA Psychiatry (online) 24. Juni 2015

 

Kommentar

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