Ehrgeizige Therapieziele bei Multipler Sklerose: Nervenschutz und Neuaufbau der Myelinscheide

Manuela Arand

Interessenkonflikte

10. Juli 2015

Berlin Das Verständnis der pathogenetischen Mechanismen, die zu den typischen ZNS-Veränderungen bei Multipler Sklerose (MS) führen, ist in den letzten Jahren enorm erweitert worden und könnte zur Entwicklung ganz neuer medikamentöser Strategien führen, erklärte Prof. Dr. Finn Sellebjerg, Leiter der Neurologie am Rigshospitalet der Universität Kopenhagen beim ersten Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Berlin [1].

Inzwischen wird sogar diskutiert, ob es sich bei der MS möglicherweise um eine primär neurodegenerative Erkrankung handelt, auf die sich eine abnorme Immunantwort des Körpers nur aufpfropft. In jedem Fall nimmt von der chronischen Entzündung eine ganze Kaskade von Prozessen ihren Ausgang, die über oxidativen Stress, Mitochondrienschäden und Demyelinisierung letztlich durch Ionenüberladung der Neuronen in die neuronale Apoptose mündet.

An diesen Vorgängen sind nahezu alle Zellen des Immunsystems beteiligt: T- und B-Zellen, dendritische Zellen und Monozyten, Astrozyten und Mikroglia. Insbesondere die Astrozyten scheinen eine wesentlich wichtigere Rolle zu spielen als lange gedacht: Sie interagieren nämlich auf multiple Weise mit den T-Zellen, indem sie beispielsweise deren Differenzierung und Aktivierung unterstützen, wie Sellebjerg ausführte.

Außerdem induzieren Astrozyten neuen Forschungsergebnissen zufolge die Entwicklung von Oligodendrozyten, die zwar mit Axonen interagieren können, aber keine Myelinscheiden mehr aufbauen – solche Zellen sind auch in MS-Läsionen bereits nachgewiesen worden. Arzneimittel, die eine Remyelinisierung demyelinisierter Axone anstoßen sollen, befinden sich laut Sellebjerg bereits in Entwicklung. Astrozyten sind mögliche Zielzellen dafür.

Cannabinoide oder Resveratrol gegen die Neurodegeneration?

Neue Therapiekonzepte sind auch dringend erforderlich, speziell für die nicht-inflammatorischen Anteile des Krankheitsprozesses, so Prof. Dr. Catherine Lubetzki, Chefin der Neurologie am Pariser Universitätsklinikum Pitié-Salpêtrière: „Die Inflammation können wir bereits relativ gut bekämpfen, aber für die Neurodegeneration fehlen uns therapeutische Optionen.“

 
Die Inflammation können wir bereits relativ gut bekämpfen, aber für die Neurodegeneration fehlen uns therapeutische Optionen. Prof. Dr. Catherine Lubetzki
 

Anders als lange gedacht, finden irreversible neuronale und axonale Schäden schon früh im Krankheitsverlauf und teilweise unabhängig von der Entzündung statt. Das gilt insbesondere für chronische Axonschäden, die einerseits direkte Folge der Demyelinisierung sind, andererseits aber auch durch Exzitotoxizität und oxidativen Stress ausgelöst werden.

Unter den als Gegenmittel gehandelten Wirkstoffen sind viele alte Bekannte: Cannabinoide, das vor allem als Rotwein-Antioxidans prominent gewordene Resveratrol, Erythropoetin, aber auch Glutamatantagonisten und Natriumkanalblocker. Fehlgeschlagen sind bereits Studien mit Lamotrigin und Dronabinol.

Erfolgreich verliefen 2 beim amerikanischen Neurologenkongress AAN vorgestellte Phase-2-Studien, eine mit hoch dosiertem Biotin (13% Verbesserung im EDSS versus 0% unter Placebo), eine mit dem Antikonvulsivum Phenytoin (34% mehr Makulavolumen als unter Placebo bei akuter Neuritis nervi optici). Angelaufen sind weitere placebokontrollierte Phase-2-Studien, darunter MS-SMART (Riluzol, Amilorid und Fluoxetin) und SPRINT-MS (Ibudilast).

Substanzen mit remyelinisierender Wirkung gesucht

Einen interessanten Ansatz könnten pluripotente Stammzellen bieten, wenn es gelingt, sie so zu stimulieren, dass sie remyelinisierende Potenz entwickeln. Im Tierversuch hat das bereits funktioniert, erklärte Lubetzki. Außerdem werden systematisch Stoffdatenbanken nach Substanzen mit remyelinisierender Wirkung durchforstet.

Einige Kandidaten wurden bereits identifiziert und könnten nach erfolgreichen Tierversuchen am Menschen untersucht werden, z. B. Clemastin (fördert die Oligodendrozyten-Differenzierung), Miconazol und Clobetason (verstärken die Oligodendrozyten-Reifung). Ihr Vorteil: Die Wirkstoffe sind zum Teil lange bekannt und haben ein kalkulierbares Sicherheitsprofil.

Es gibt also eine Fülle von neuen Ansätzen für die MS-Therapie, die derzeit erprobt werden. Eine Herausforderung dabei: Remyelinisierung und Neuroprotektion zu messen ist schwierig – die Suche nach Surrogatmarkern läuft.

Moderne Therapien bringen moderne Therapieziele

Lange Zeit hießen die obersten Ziele der MS-Therapie: Schübe verhindern, Behinderungsprogression aufhalten. Doch nachdem immer mehr wirksame Arzneimittel verfügbar wurden und neue in den Pipelines warten, ist auch das Therapieziel ehrgeiziger geworden, wie Prof. Dr. Hans-Peter Hartung, Direktor der Neurologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, erklärte: Jegliche erkennbare Krankheitsaktivität soll verschwinden.

NEDA heißt das Zauberwort – no evidence of disease activity. Die genauen Inhalte werden gerade diskutiert. Schubfreiheit, Behinderungs- und MRT-Befundstabilität, minimaler Hirnsubstanzverlust werden sicher dazu gehören, möglicherweise auch neuropsychologische Parameter wie Kognition, Depression oder Fatigue und gesundheitsbezogene Lebensqualität.

Die MS-Therapeuten befinden sich damit jedenfalls in guter Gesellschaft anderer Kollegen, die autoimmun vermittelte Entzündungskrankheiten behandeln. Die Rheumatologen setzen schon seit längerem auf Unterdrückung der Krankheitsaktivität als wichtigsten klinischen Endpunkt.

 

REFERENZEN:

1. Erster Kongress der European Academy of Neurology (EAN), 20. bis 23. Juni 2015, Berlin

 

Kommentar

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