EU-Auflagen zerstückeln das griechische Gesundheits- system: Nicht-Versicherte kaum noch versorgt

Gerda Kneifel

Interessenkonflikte

8. Juli 2015

Die Enttäuschung bei den meisten EU-Politikern war groß, als Tsipras das Referendum ankündigte und die Griechen mit „Oxi – Nein“ votierten. Ein nicht unwesentlicher Grund dafür dürfte im Niedergang des griechischen Gesundheitssystems liegen, in dem aufgrund der auferlegten Sparzwänge immer weniger Kranke angemessen versorgt werden können.

„Zwischen 2010 und 2013 wurden allein 170 Auflagen zum Gesundheitswesen in die Memoranden aufgenommen“, berichtete Prof. Dr. Alexis Benos, Laboratory of Hygiene and Social Medicine, University of Thessaloniki, in einem Artikel. „Es geht um Austeritätsmaßnahmen wie eine Deckelung der öffentlichen Ausgaben, die Einführung von Nutzungsgebühren, den Einstellungsstopp für Personal im öffentlichen Gesundheitssektor, empfindliche Kürzung von Löhnen und Gehältern des Pflegepersonals sowie Kürzungen der Mittel aus den Sozialversicherungskassen.“

Nadja Rakowitz

Welche Folgen das hat, erklärt Nadja Rakowitz, Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää) gegenüber Medscape Deutschland: „Wir haben im Februar 2014 im Rahmen einer Delegationsreise eine Patientin getroffen, die mit ihren Röntgenaufnahmen in eine der Praxen der Solidarität kam und sagte, dass sie vor drei Jahren die Diagnose Brustkrebs bekommen hatte, ihr aber das Geld für die Behandlung fehlt“, berichtet sie.

Der Soziologe Prof. Dr. David Stuckler aus Oxford beschreibt, dass er einen Patienten gesehen habe, der mit schon durch die Haut durchnässendem Tumor in die Praxis kam. Auch er hatte kein Geld für die Behandlung. Das „Oxi“ kann man aus Sicht dieser Menschen verstehen. Es kann nicht mehr schlimmer kommen. Stuckler hat gemeinsam mit Prof. Dr. Sanjay Basu vom Prevention Research Center in Stanford das Buch „The Body Economy – How Austerity kills“ herausgegeben.

Die Situation in Griechenland

Heute gleichen die Zustände in Griechenland eher denen in armen afrikanischen Ländern als in einem EU-Staat. Die Säuglingssterblichkeit stieg in den vergangenen 3 Jahren rasant an (wie Medscape Deutschland berichtete). Die Rate von Neuinfektionen mit HIV unter Drogenkonsumenten, die Spritzen benutzen, ist stark angestiegen, seit aus Kostengründen die Spritzenaustausch-Programme gestrichen wurden. Und „Selbsttötungen und Tötungsdelikte nehmen insbesondere unter jungen Männern zu“, warnte Benos, der bis vor kurzem Mitglied im Zentralkomitee von Syriza war, schon im vergangenen Jahr. „Es gibt einen drastischen Anstieg von psychischen Erkrankungen, Drogenmissbrauch und Infektionskrankheiten.“ Dazu zählt Malaria, die vermehrt auftrete, seit Insektenschutzprogramme aus Kostengründen eingestellt wurden, berichteten Ärzte in Athen.

Arbeitslose: Nach einem Jahr ohne Krankenversicherung

„Schauen Sie sich die Zahlen an, ca. 30.000 Obdachlose gibt es allein in Athen, fast jeder dritte Grieche ist arbeitslos“, moniert auch Rakowitz. Da Arbeitslose nach einem Jahr nicht nur aus der Arbeitslosen-, sondern auch aus der Krankenversicherung herausfallen, haben all diese Menschen faktisch keinen Zugang mehr zur öffentlichen Gesundheitsversorgung. „Die neue Regierung will hier gerade Abhilfe schaffen mit einem Krankenscheinheft für Nicht-Versicherte“, berichtet Rakowitz. Doch unter den Jugendlichen sind mittlerweile sogar schon fast 60% ohne Arbeit und hier liegt eine wahre Zeitbombe begraben. Denn diese Gruppe fällt derzeit nur deswegen noch weniger auf, weil sie jung und gesund ist. Das aber wird sich im Laufe der Zeit mit Sicherheit ändern.

Die Situation scheint in Städten und auf dem Land unterschiedlich dramatisch. Es gibt Inseln, auf denen es auf den ersten Blick keine gravierenden Probleme gibt. „Ich war zwei Wochen auf Korfu und habe nur einen Bettler gesehen und – zumindest in der Stadt – kein geschlossenes Geschäft“, berichtet Rakowitz. „Die medizinische Behandlung scheint noch zu funktionieren. Touristen spülen hier offensichtlich genügend Geld in die Kassen. Aber auf Kreta, wo es auch größere Städte gibt, haben längst Praxen der Solidarität ihre Türen geöffnet.“

Ohne Praxen der Hilfsorganisationen geht nichts mehr

Sogenannte Praxen der Solidarität sind allein durch Spenden finanzierte Hilfsdienste, in denen Ärzte, Pfleger und alle möglichen anderen Menschen ohne Hierarchie und unentgeltlich nach Feierabend oder an ihren freien Tagen arbeiten, um die etwa 3 Millionen Griechen ohne Krankenversicherung und die vielen tausend Menschen ohne Papiere zumindest notdürftig zu versorgen.

Angenommen werden auch Patienten mit Krankenversicherung, die von den Krankenhäusern in die Praxen geschickt werden, weil sie kein Personal oder keine Medikamente für die Behandlung haben. Die Spenden kommen sowohl aus Griechenland selbst als auch dem europäischen Ausland – allen voran Deutschland. Die Zahl dieser solidarischen Praxen ist von 20 bis 25 im Jahr 2013auf 40 im Jahr 2014 gestiegen. In diesem Jahr sind es laut Rakowitz bereits 60, Tendenz weiter steigend.

Verhandlungen zwischen Deutschland und Griechenland auf Eis gelegt

Deutschland, das bei der Reform des griechischen, unbestrittenermaßen korrupten Gesundheitswesens eine zentrale Rolle spielt, hat im April 2014 Wolfgang Zöller, zuvor Patientenbeauftragter der Bundesregierung, zum Sonderbeauftragten des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) für Griechenland ernannt. Der CSU-Politiker sollte die griechische Regierung bei der Reform ihres Gesundheitswesens unterstützen.

Bundesgesundheitsminister Herrmann Gröhe frohlockte noch vor einem Jahr: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, einen herausragenden Experten des deutschen Gesundheitswesens für die beratende Begleitung der von der EU, der WHO und der GIZ verantworteten und vom BMG begleiteten Reformprozesse zu gewinnen ... Mir ist wichtig, dass die Reformen ihr Ziel erreichen: Die Effizienz des Gesundheitssystems und damit auch die Qualität der Patientenversorgung zu erhöhen“ – so wird er in der Deutschen Apotheker Zeitung zitiert.   

Im Rahmen einer Task Force war es dann Anfang 2015 zu einem Treffen zwischen Zöller und Vertretern der Syriza-Regierung gekommen, bestätigt ein Sprecher des BMG. Auf der To-Do-Liste standen das „vorsichtige Einführen“ eines neuen Abrechnungsmanagements in griechischen Krankenhäusern – nach Vorbild der German Diagnosis Related Groups (G-DRG) – , die Einbeziehung Nichtversicherter in das Versorgungssystem, ein effizientes Kostenmanagement in der Arzneimittelversorgung sowie eine bessere Versorgung der Menschen auf dem Lande. Doch dieses erste Treffen war bislang auch das einzige. „Es gibt momentan de facto keinen Kontakt zur griechischen Regierung“, bedauert der Sprecher des BMG.

Privatisierung des griechischen Gesundheitssystems forcieren?

 
Faktisch ist das staatlich ambulante ,System‘ damit extrem ausgedünnt. Immer mehr wird von den Praxen der Solidarität abgedeckt. Nadja Rakowitz
 

Weniger bedauernd äußert sich da Nadja Rakowitz. „Die EU möchte auf Gedeih und Verderb die Privatisierung des Gesundheitswesens in Griechenland durchdrücken und die Deutschen sind in dieser europäischen Gesundheitspolitik federführend. Die ambulante Versorgung ist bereits nach deutschem Vorbild umstrukturiert, die Ärzte ins Private gezwungen.“

Die Soziologin spricht damit auf Februar 2014 an, als mit einem Schlag sämtliche im Lande existierenden 350 ambulanten Praxen geschlossen wurden. Diese primären Anlaufstellen für Patienten waren von den Krankenkassen geführt, die Ärzte arbeiteten als deren Angestellte. „Nach Auflösung dieser staatlich geführten Ambulatorien wurden in neuer Form rund die Hälfte dieser Praxen wieder aufgemacht. Faktisch ist das staatlich ambulante ,System‘ damit extrem ausgedünnt. Immer mehr wird von den Praxen der Solidarität abgedeckt“, kritisiert Rakowitz. „Es kann nicht sein, dass hier ein paralleles System entsteht, dass allein auf der Eigeninitiative und Solidarität der Menschen basiert, und als Ersatz für das öffentliche Gesundheitswesen herhalten soll.“

 
Es kann nicht sein, dass hier ein paralleles System entsteht … und als Ersatz für das öffentliche Gesundheitswesen herhalten soll. Nadja Rakowitz
 

Die neue griechische Regierung hat laut der vdää-Geschäftsführerin die Einführung der G-DRG erst einmal auf Eis gelegt. „Syriza will weder die DRGs – die im Übrigen aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Jahre selbst hierzulande stark kritisiert werden – noch will die Partei das Gesundheitssystem insgesamt privatisieren“, so Rakowitz. „Dass die Skepsis ihre Berechtigung hat, sehen wir an unserem System, das zu einer völligen Fehlsteuerung von Leistungen führt. Wegen der Bezahlung über DRG und der mit den DRG eingeführten Konkurrenz der Krankenhäuser untereinander kommt es auf der einen Seite zu einer medizinisch nicht begründbaren Leistungsausweitung und Personalmangel auf der anderen Seite.“

Ein weiteres Beispiel des Privatisierungswillens der Geldgeber: „Labore und ähnliche medizinische bislang öffentliche Dienstleistungen wurden privatisiert – mit dem Ergebnis, dass diese privaten Laborleistungen heute viel teurer sind als früher“, berichtet Rakowitz.

Nicht gewonnen ist bislang auch der Kampf gegen die Korruption. In Griechenland gibt es das gängige Phänomen des „Fakelaki“, dem auch Tsipras und die Praxen der Solidarität ein Ende setzen wollen. Patienten, die z.B. nicht Monate auf eine OP warten wollten, schoben bislang einfach ein „Umschlägchen“ über den Arzttisch. „Diese Fakelakis gibt es angesichts der Zustände heute jedoch immer noch – bei denen, die es sich noch leisten können“, moniert Rakowitz.

Humanitäre Hilfe schon länger notwendig

Bei allem Mitgefühl mit den Griechen wird doch eine Gruppe von Menschen meist gar nicht beachtet: die Flüchtlinge. Im Moment kommen täglich – so die Informationen, die Rakowitz in Athen bekam – 500 bis 1.000 Menschen über die Grenze nach Griechenland. „Syrer, Afghanen, Pakistani, Menschen aus verschiedenen afrikanischen Ländern: Sie alle müssen nach Athen, denn nur dort haben sie überhaupt eine Chance, Asyl zu beantragen. Sie leben praktisch auf der Straße, ohne jede Versorgung.“

Und im Norden Griechenlands, an der makedonischen Grenze, versuchen täglich hunderte Flüchtlinge, über Makedonien und dann weiter durch Serbien und Ungarn Richtung Nordeuropa zu kommen. „Ich habe erst kürzlich einen Notruf erhalten“, so Rakowitz. „Die makedonische Grenzpolizei scheint extrem gewalttätig zu sein, es gibt dort eine regelrechte Mafia, die die Flüchtlinge ihres letzten Hab und Guts beraubt. Auch diese Menschen seien ohne jede staatliche Versorgung, kritisiert die vdää-Vertreterin.

Auch hier hilft die Praxis der Solidarität, in diesem Fall in Thessaloniki, die sich zusammen mit anderen Leuten aus der Bewegung um die Geflüchteten kümmern, soweit ihnen das möglich ist, so Rakowitz. „Sie überlegen, ein stillgelegtes Militärkrankenhaus wieder zu eröffnen, um für die Menschen Unterkunft und Versorgung unter menschenwürdigen Bedingungen zu gewährleisten“, erklärt sie die Pläne. Auf den Inseln Lesbos, Chios und Kos, die gegenüber der türkischen Grenze liegen, entwickeln sich die Verhältnisse ebenfalls dramatisch.

„Es gibt zwar auch faschistische Tendenzen in Griechenland, aber unserer Erfahrung nach zeigt sich die Mehrheit Bevölkerung, die ja selbst nur wenig oder auch nichts mehr hat, den geflüchteten Menschen gegenüber sehr hilfsbereit. Auch mit diesem Problem lassen wir Griechenland völlig allein.“

Der Fortgang der Beratungen in Brüssel, auch das ein Hinweis des Sprechers des BMG, werde zeigen, ob humanitäre Hilfe für die Griechen notwendig wird oder nicht. „Zu sagen, es könnte womöglich zu einer humanitären Katastrophe in Griechenland kommen, ist absurd, denn für viele ist sie schon längst da“, kontert Rakowitz.

Und sie ergänzt: „Unsere griechischen Kollegen sagen uns immer, Ihr müsst über die Situation hier aufklären, aufklären, aufklären.“ Alexander Kentikelenis und seine Kollegen vom Department of Sociology, University of Cambridge, Großbritannien, hatten bereits im Oktober 2011 in einem Brief in The Lancet gemahnt: „Wir müssen der Gesundheit und dem Zugang zum Gesundheitssystem mehr Beachtung schenken. Es muss sichergestellt werden, dass die griechische Krise nicht die letzte Quelle des Wohlstands dieses Landes unterhöhlt – seine Menschen.“ Das allerdings ist unsicherer denn je. Und Gröhes Wunsch nach einer verbesserten Patientenversorgung ist angesichts des auch auf Wirken der EU und Deutschlands in weiten Teilen nicht mehr funktionierenden Versorgungssystems im besten Falle blauäugig.

 

Kommentar

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