Düsseldorf – Patienten, deren HIV-Infektion erst spät diagnostiziert wird, weisen ein hohes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko auf. Als spät diagnostiziert gelten Patienten, deren CD4-Zellzahl bereits unter 350 Zellen/μl liegt, und/oder wenn bereits eine AIDS-Erkrankung vorliegt (sog. Late Presenter). „Aber auch 30 Jahre nach Einführung des HIV-Tests verpassen Ärzte immer noch zu oft die Diagnose einer HIV-Infektion, auch wenn sich AIDS bereits ankündigt“, beklagte Dr. Hartmut Stocker, Oberarzt am Zentrum für Infektiologie und HIV des Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikums, Berlin.
Late Presenter seien seit mehreren Jahren immer mehr in den Fokus gerückt, so Stocker auf dem 7. Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongress in Düsseldorf [1]. Er erinnerte daran, dass bereits im Jahr 2008 die europäische Arbeitsgruppe „HIV in Europe“ eine Liste von Indikatorerkrankungen veröffentlichte, die auf eine HIV-Infektion deuten und bei deren Vorliegen ein HIV-Test angeboten werden sollte. Dieser Leitfaden liegt mittlerweile auch in deutscher Übersetzung vor.
Getestet werden sollte nach diesem Leitfaden bei Erkrankungen mit einer HIV-Prävalenz von > 0,1%. Dazu gehören unter anderem:
• sexuell übertragbare Erkrankungen
• maligne Lymphome
• Anal- und Zervix-Dyplasie/Karzinom
• Herpes zoster
• Hepatitis B und C
• ungeklärte Leukopenien und Thrombopenien, die länger als 4 Wochen anhalten
• Candidämie
• invasive Pneumokokken-Erkrankung
Die Gruppe einigte sich in einem von der britischen HIV-Association herausgegebenen Paper auf die Definition für die Late Presenter (unter 350 CD4-Zellen/μl und/oder manifeste AIDS-Erkrankung). Sie verwies auch darauf, dass rund ein Drittel der HIV-Infizierten in Europa erst als Late Presenter in die medizinische Versorgung kommen.
Viel hat sich nicht getan – 21 Prozent der Late Presenter mit Indikatorerkrankungen
Dass sich seitdem nicht allzu viel geändert hat, veranschaulichte Stocker anhand einer retrospektiven Studie aus Berlin: 21% der HIV-Patienten mit Vorzeichen von AIDS suchten zwar ärztlichen Rat, aber dieses Vorzeichen wurde nicht erkannt, und es erfolgte kein Angebot für einen HIV-Test [2]. Die Studie basiert auf den Daten von 309 Patienten, die zwischen 1.1.2009 und 31.12.2013 ihre HIV-Erstdiagnose im Auguste-Viktoria-Klinikum erhielten oder deswegen an dieses Klinikum überwiesen wurden.
„Ein besonders hohes Risiko, trotz Indikatorerkrankung nicht auf HIV getestet zu werden haben, hatten Frauen und heterosexuelle Männer und wahrscheinlich auch ältere HIV-Infizierte“, berichtete Stocker.
Berliner Studie: 88 Prozent Late Presenter
In dem 5 Jahre dauernden Beobachtungszeitraum wurden 309 Patienten mit einer Erstdiagnose identifiziert, von denen zum Zeitpunkt der Erstdiagnose 268 HIV-Patienten (88%) die Kriterien für die späte Diagnose erfüllten. Das mediane Alter der Late Presenter betrug 43 Jahre, 18% waren älter als 65 Jahre und 43 (16%) waren Frauen. Die häufigste Ethnizität war mit 75% kaukasisch, gefolgt von 9,7% Patienten aus Sub-Sahara-Afrika. Der Transmissionsmodus war in 43,7% der Fälle homosexueller Sex zwischen Männern, 29,1% heterosexueller Kontakt, 4,1% intravenöser Drogengebrauch und 1,5% Bluttransfusionen.
Die Patienten hatten mit einer medianen CD4-Zellzahl von 59/μl einen schweren Immundefekt, und sie wiesen mit im Median 5,5 Logstufen eine sehr eine hohe Viruslast auf. Stocker verwies auf die sehr hohe Krankenhaussterblichkeit dieser Patientengruppe, die in der Studie bei 7,8% lag. Er begründete dies damit, dass die Patienten in den meisten Fällen bereits eine AIDS-Erkrankung hatten.
Die häufigsten opportunistischen Infektionen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung waren Pneumocystis-Pneumonie (34%), Toxoplasmen-Enzephalitis (8,6%) und progressive mulitfokale Leukoenzephalopathie (4,8%). Im Median hatten die Patienten 2 opportunistische Infektionen, in Einzelfällen sogar 6.
Insgesamt 81 Late Presenter, davon 55 mit dokumentierter Indikatorerkrankung (21%), hatten zuvor Kontakt mit der Gesundheitsversorgung, aber nur einem Patienten war ein HIV-Test angeboten worden. 42% der Late Presenter mit Indikatorerkrankungen hatten Kontakt in der Notaufnahme, zuvor stationär aufgenommen waren 18% in der Inneren Medizin, 7% in der Neurologie, 7% in der Gynäkologie und 4% in der Chirurgie.
Stocker geht davon aus, dass die 21% eher eine zu geringe Zahl sei, da das Auguste-Viktoria-Krankenhaus im Verbund nur ein Drittel der Gesundheitsversorgung innerhalb Berlins abdeckt.
Leukopenie und Thrombopenie häufigste Indikatoren
Die häufigsten 5 HIV-Indikatorerkrankungen waren ungeklärte Leukopenie (Frauen 25% und Männer 23%) und Thrombopenie (Frauen 5% und Männer 20%), die länger als 4 Wochen dauerten, gefolgt von Soor oral oder ösophagial (Frauen 15% und Männer 17%), Herpes zoster bei 14% der Männer (0% Frauen) und Zervixdysplasie oder -karzinom bei 20% der Frauen sowie ungeklärter Gewichtsverlust (Frauen 17% und Männer 15%).
Es dauerte 100 Tage, ehe die Hälfte der Patienten mit einer Indikatorerkrankung auf HIV getestet wurde und erst nach 2.000 Tagen waren alle getestet. Nur bei Vorliegen einer Kandidose und bei unerklärlichem Gewichtsverlust war die Zeit bis zur HIV-Diagnose kürzer (50 Tage und 20 Tage).
Für Stocker ist es verständlich, dass eine ungeklärte Leukopenie und Thrombopenie nicht unbedingt zu einem HIV-Test führt. Bedenklich ist es für ihn jedoch, dass kein HIV-Test angeboten wurden, obwohl die Patienten Soor, Herpes zoster, Zervixdysplasie/-karzinom oder Analdysplasie/-karzinom aufwiesen.
„Das Ärzte immer noch zu oft die Diagnose einer HIV-Infektion verpassen, kann daran liegen, dass typische Indikatoren nicht erkannt werden oder Hemmungen bestehen, einen HIV-Test anzubieten“, resümierte Stocker.
REFERENZEN:
1. 7. Deutsch-Österreichischer AIDS-Kongress (DÖAK), 24. bis 27. Juni 2015, Düsseldorf
Diesen Artikel so zitieren: Unwissen oder Hemmung? Warum die HIV-Diagnose noch so oft versäumt wird - Medscape - 7. Jul 2015.
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