Die medizinische Versorgung von Flüchtlingen krankt an vielen Stellen – Ärzte engagieren sich

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

30. Juni 2015

„Wie soll denn jemand Deutsch lernen, wenn er das Unterrichtsmaterial noch nicht mal lesen kann?“, fragt Dr. Anke Lemmer, Allgemeinmedizinerin in Erlangen. Man mag es kaum glauben, doch: Brillen gehören nicht zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen. Weder die Therapie- noch die Abrechnungsmöglichkeiten des Asylbewerberleistungsgesetzes sind ausreichend, bestätigt Lemmer. Denn eine regelhafte Hilfsmittelversorgung ist nicht vorgesehen und außer in Notfällen ist der bürokratische Genehmigungsaufwand enorm.

Hinsehen statt wegschauen – nach diesem Motto hat Lemmer zusammen mit ihren Kollegen Dr. Markus Beier und Dr. Peter Eggenwirth Anfang September vergangenen Jahres eine Initiative zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen gegründet. Mit Unterstützung des Arbeiter Samariter Bundes (ASB), des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) und ehrenamtlichen Helfern und Dolmetschern bieten sie tägliche hausärztliche Sprechstunden an.

 
Flüchtlinge sind in unserem unübersichtlichen Gesundheitssystem doch völlig überfordert. Dr. Anke Lemmer
 

Standort war ursprünglich eine Zeltunterkunft, inzwischen ist es ein ehemaliges Möbellager, in dem 300 Flüchtlinge Platz finden. „Einmal in der Woche können wir eine kinderärztliche Sprechstunde anbieten, der Bedarf ist groß“, erzählt Lemmer. Der Beginn der Tätigkeit war schwierig: „Wir hatten kein Dokumentationssystem und waren als Team noch nicht eingespielt. Und wir arbeiten bis heute mit technischer Minimalausstattung – Fieberthermometer, Ohrspiegel, Blutdruck- und Blutzuckermessgerät, Urin-Stix“, berichtet Lemmer im Gespräch mit Medscape Deutschland.

Geht es nach Lemmer und ihren Kollegen, sollte an jeder zentralen Aufnahmestelle und in jeder Notunterkunft eine hausärztliche Sprechstunde stattfinden. „Die Dolmetscher könnten so besser koordiniert werden. Flüchtlinge sind in unserem unübersichtlichen Gesundheitssystem doch völlig überfordert – das beginnt beim Termin ausmachen und einhalten und setzt sich fort, wenn es darum geht, sich in einer unbekannten Gegend zurecht finden, oder sich womöglich krank auf den Weg machen zu müssen“, betont Lemmer.

Konkrete Maßnahmen für die medizinische Versorgung sind überfällig

Doch von einer ausreichenden medizinischen Versorgung der Flüchtlinge ist man in Deutschland weit entfernt.

„Endlich konkrete Maßnahmen, die bei den Flüchtlingen ankommen“, fordert Prof. Dr. Manfred Gahr, Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ), in einer Pressemitteilung seitens der Landes-und Bundespolitik [1]. Bereits im vergangenen Jahr hatte die DAKJ alle zuständigen Bundes- und Landesministerien angeschrieben und eindringlich für eine bessere medizinische Versorgung von Flüchtlingen plädiert.

 
Die Einführung einer Versichertenkarte für alle Flüchtlinge ist dringend geboten. Prof. Dr. Manfred Gahr
 

Die DAKJ forderte und fordert eine bessere Versorgung von Flüchtlingen und die flächendeckende Einführung von Chipkarten. Gahr: „Die Einführung einer Versichertenkarte für alle Flüchtlinge ist dringend geboten.“ Diese seien bereits 2005 in Bremen und 2012 in Hamburg eingeführt worden, beide Bundesländer hätten damit gute Erfahrungen gemacht und die Bürokratie dadurch verringert.

Auch der Ärztetag hatte sich für eine bessere Versorgung der Flüchtlinge stark gemacht und gefordert, „die medizinische Versorgung von Flüchtlingen und insbesondere von Flüchtlingskindern gemäß der eingegangenen Verpflichtung der UN-Kinderrechtskonvention sicherzustellen“ [2]. „Leider müssen wir feststellen, dass gegenwärtig die meisten ausländerrechtlichen Gesetze gegenüber minderjährigen Flüchtlingen diskriminierend wirken“, heißt es im Bericht des Ärztetages.

Nach § 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes werden nur die Kosten für die Behandlung akuter Krankheiten und Schmerzzustände erstattet. „Paragraf vier unterscheidet nicht zwischen Kindern und Erwachsenen, schon das ist ein Unding“, sagt Vincent Jörres, Sprecher des Hausärzteverbandes gegenüber Medscape Deutschland.

Präventive Leistungen wie Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen, Kariesprophylaxe, Sehhilfen, die Behandlung chronischer Erkrankungen, die Heil- und Hilfsmittelversorgung von behinderten Kindern sowie die Behandlung von psychisch traumatisierten Kindern und Jugendlichen werden in vielen Bundesländern nicht erstattet. Wie gut die medizinische Versorgung ist, hängt also ganz davon ab, wo der Flüchtling landet.

Wer den Flüchtlingen helfen will, braucht einen langen Atem…

Wer Flüchtlingen helfen will, muss hartnäckig sein. Diese Erfahrung hat Dr. Mathias Wendeborn, Kinder und Jugendarzt in München und Gründer des Ärztevereins Refudocs, reichlich gemacht. Bevor Wendeborn die bayerische Landesregierung von seinem Konzept überzeugte, gab es in der Bayernkaserne zwar vereinzelt medizinische Sprechstunden, doch die Versorgung war auf Einzelinitiativen angewiesen, nicht behördlich geregelt und wurde der Situation immer weniger gerecht.

 
Wir wollten eine steuergetragene Finanzierung, an der sich jeder beteiligt. Dr. Mathias Wendeborn
 

Am ersten November vergangenen Jahres war es dann soweit: Seitdem kümmern sich die Refudocs um die medizinische Erstversorgung von Flüchtlingen in der ehemaligen Bayernkaserne. 70 Ärzte sind im Einsatz, darunter viele Mediziner im Ruhestand, die hochqualifiziert und hoch motiviert sind. In 10 Containern finden regelmäßige Sprechstunden bei Allgemeinmedizinern, Psychiatern, Gynäkologen und für Kinder statt. Die Stadt München stellt Dolmetscher zur Verfügung, vergütet werden die Ärzte von der Regierung von Oberbayern mit einer Pauschale.

„Wir wollten eine steuergetragene Finanzierung, an der sich jeder beteiligt, das finde ich gerechter als das über die Krankenkassen zu regeln. Die Versorgung von Flüchtlingen ist unsere gesellschaftliche Aufgabe“, erklärt Wendeborn im Gespräch mit Medscape Deutschland. Um die Sprechstunde in Anspruch nehmen zu können, reicht der Bewohnerausweis der Bayernkaserne. Jeder Patient erhält eine Nummer, Diagnose und Behandlung sind elektronisch dokumentiert. Der Ansatz bietet nicht nur eine gute medizinische Versorgung, sondern dürfte längerfristig auch eher Geld sparen.

Kommentar

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