Berlin – Angenommen, Sie möchten für 8.000 Euro einen Kleinwagen kaufen. Bei einem Händler entdecken Sie ihr Wunschmodell, einmal ohne und einmal mit Klimaanlage. Merkwürdig ist nur: Beide kosten 8.000 Euro. Welchen Wagen kaufen Sie?
Die Antwort ist logisch – wenn es um Autos geht. Nicht so bei Medikamenten: Da zahlen die Krankenkassen den hohen Preis, auch wenn es keine Extrawirkung gibt. Neue Arzneimittel, die erwiesenermaßen keinen Zusatznutzen haben, erzielen dieselben Preise wie Mittel, die einen beträchtlichen Zusatznutzen bringen. Das zeigt ein Report der Deutschen Gesellschaft für Hämatalogie und Medizinische Onkologie (DGHO) und der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) [1].
Die Autoren resümieren: „Es gibt keine direkte Korrelation zwischen dem Zusatznutzen und dem Erstattungsbetrag.“ Das kostet nicht nur viel Geld – es verhindert auch echte Innovationen im Arzneimittelmarkt.
Nur ein einziges Mittel bekam die Bestnote
Seit 2011 gilt in Deutschland das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG). Ziel war, die Ausgaben für neue Medikamente zu begrenzen, indem nur jene Mittel hohe Preise verlangen können, die erwiesenermaßen besser wirken als bestehende Therapien – der so genannte Zusatznutzen. Bewertet wird dies bekanntlich vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), die letzte Entscheidung trifft der G-BA. 98 neue Mittel sind seit 2011 bewertet worden.
Die Bilanz sieht laut DGHO-Report mager aus. Die beste Note („erheblicher Zusatznutzen“) gab es nur ein einziges Mal, die zweitbeste („beträchtlicher Zusatznutzen“) nur in 12% der Fälle. In 60% wurde gar kein Zusatznutzen festgestellt.
Am ehesten überzeugen konnten noch Mittel aus der Krebs- und Infektionsforschung. In der Diabetes-Behandlung und Neurologie dagegen erreichte fast kein Präparat auch nur eine mittlere Note („geringer Zusatznutzen“). Die meisten neuen Mittel wirken also nicht besser als die alten, günstigeren.
Dabei sind sich G-BA und IQWiG in ihren Bewertungen meist einig (zu 78%). Bei den Fällen mit Dissens zeigt der G-BA eine Tendenz zur Mitte: Sowohl sehr schlechte als auch sehr gute Vorbewertungen des IQWiG werden korrigiert (15 mal von „kein“ auf „geringer Zusatznutzen“; 6 mal von „erheblicher“ auf „beträchtlicher Zusatznutzen“).
Den Bewertungen der Pharma-Unternehmen folgte der G-BA nur in 11% der Fälle. Die Firmen hatten ihren Mitteln 74mal einen „erheblichen Zusatznutzen“ attestiert. 54mal stufte der G-BA sie aber auf „kein“ bis „geringer“ Zusatznutzen herab.
Verhandlungen über Preise sind intransparent

Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig
13 Arzneimittel wurden im Zusammenhang mit der Nutzenbewertung vom Markt genommen, vermutlich, weil den Unternehmen die geringeren Preise nicht ausreichten. Bis auf eines waren sie alle ohne Zusatznutzen. Umgekehrt werden aber auch viele Mittel ohne Zusatznutzen durchaus weiter vertrieben. Das ist laut AMNOG auch möglich, aber eben zu geringeren Preisen, da die Mittel keinen echten Fortschritt bringen.
Doch in der Praxis funktioniert das scheinbar nicht: Die Pharma-Unternehmen verlangen auch für Mittel ohne Zusatznutzen erhöhte Preise – und die Krankenkassen akzeptieren es. Für das Krebsmittel Dabrafenib etwa wurde kein Zusatznutzen ermittelt. Für Vemurafenib dagegen ein beträchtlicher. Beide kosten 8.100 Euro pro Monat. Eine Ursachenanalyse ist schwierig, weil die Preisverhandlungen nicht veröffentlicht werden.
Thematisiert wurde die Diskrepanz zwischen Nutzen und Preis bei der Vorstellung des Reports hauptsächlich vom Vertreter der AkdÄ. „Der Preis orientiert sich nur daran, was der Markt bereit ist zu zahlen“, sagt der Vorsitzende Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig. Dies sei nicht nur unwirtschaftlich: „Es verringert auch die Motivation für die Unternehmen, echte Innovationen zu entwickeln“.
Denn wozu sich anstrengen, wenn man auch für mittelmäßige Arzneien Top-Preise erzielt? Letztlich sei es aber nicht Aufgabe der Ärzte, Strategien für angemessene Preise zu entwickeln, sagt Ludwig: „Die Entscheidung, welche Behandlung der Gesellschaft wie viel wert ist, muss die Politik treffen.“
Mittel gegen langsam fortschreitende Krankheiten haben es schwerer
Die DGHO kritisiert, dass einige tatsächliche Innovationen im AMNOG-Prozess ungerechtfertigt schlecht bewertet werden. Die Kombination aus Ledispavnir und Sofosbuvir etwa hat in der Behandlung von Hepatitis C den Durchbruch gebracht: 99% der Patienten sind dadurch heilbar (mit der vorigen Therapie waren es nur 50%). Doch das IQWiG erkennt in seiner Bewertung des Mittels nur einen „Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen“.
Das Votum des G-BA steht noch aus. „Nun traut sich kaum einer mehr, damit zu behandeln“, sagt Prof. Dr. Thomas Berg, Leiter der Sektion Hepatologie an der Klinik und Poliklinik für Gastroenterologie und Rheumatologie am Universitätsklinikum Leipzig und Medizinischer Leiter der DGHO.
Seiner Meinung nach ist die Methodik des IQWiG für bahnbrechende Therapieentwicklungen ungeeignet. Auch würden Aspekte zu wenig beachtet, die für die Patienten wichtig sind. „Was nützt eine bestehende Behandlung gegen Hepatitis, wenn der Patient sie wegen der erheblichen Nebenwirkungen nicht akzeptiert?“ Patientenvertreter kommen im AMNOG-Prozess bislang kaum zu Wort, abgesehen von ihren Sitzen im G-BA.
Prof. Dr. Mathias Freund, Geschäftsführender Vorsitzender der DGHO, fordert, künftig mehrere Endpunkte zu erheben und diese gewichtet zu einer Gesamt-Bewertung des Mittels zu kombinieren: „Für den Patienten ist das Gesamtpaket entscheidend.“ Bislang zählt für IQWiG und G-BA vor allem ein verbessertes Überleben. Dadurch ergeben sich schlechtere Chancen für Mittel gegen chronische Krankheiten wie Hepatitis, die erst nach vielen Jahren zum Tode führen.
Eine weitere Kritik der DGHO bezieht sich auf die Vergleichstherapien, gegen die die neuen Mittel bestehen müssen. „Diese sollten sich künftig an der Praxis und an den Behandlungsleitlinien orientieren“, sagt Freund. Die frühe sollte durch eine späte Nutzenbewertung ergänzt werden.
„Manche Mittel werden zunächst nur für eine Indikation eingeführt, später aber viel breiter erfolgreich angewandt“, sagt Ludwig. Doch eine spätere unabhängige Evaluation mit Daten aus der Praxis ist schwierig: Es gibt dafür in Deutschland kaum Geld. Insgesamt stellte die DGHO dem AMNOG-Verfahren kein schlechtes Zeugnis aus: „Wir plädieren aber für eine Weiterentwicklung“, sagt Freund.
REFERENZEN:
1. DGHO: Frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel in Deutschland 2011-2014. April 2015
Diesen Artikel so zitieren: DGHO-Report klagt: Neue Krebsmedikamente haben kaum Zusatznutzen, sind trotzdem teuer - Medscape - 28. Mai 2015.
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