Viele Ärzte in den USA verlassen sich täglich auf die Zusammenarbeit mit ihren Physician Assistants und Nurse Practitioners – Assistenzberufe, die den deutschen nicht-ärztlichen Praxisassistentinnen (NäPas) ähneln. Doch das enorme Wachstum dieser Berufsgruppen sehen manche mit gemischten Gefühlen. Sie räumen zwar die Kompetenz der Assistenzberufe ein, warnen aber auch vor deren Grenzen. Eine weitere Verlagerung ärztlicher Leistungen, so die Befürchtung, könnte zu einer Zwei-Klassen-Behandlung führen.
In vielen US-Bundesstaaten dürfen Assistenzberufe bereits allein behandeln
Ein prominenter Skeptiker ist Dr. Sandeep Jauhar, Autor des Buches Doctored: The Disillusionment of an American Physician. Einerseits, sagt der New Yorker Kardiologe, vertraue er seinem Nurse Practicioner wie sonst fast Niemandem: „Er ist seit Jahrzehnten mein professioneller Partner und Kollege, und er arbeitet wirklich exzellent. Unsere Zusammenarbeit funktioniert hervorragend. Sie ist auch keine Einbahnstraße, ich lerne jeden Tag etwas von ihm.“
Dennoch sei der Nurse Practicioner klinisch nicht gleichwertig qualifiziert: „Er muss sich mit mir absprechen.“ Jauhar hält es für bedenklich, wenn, wie kürzlich in New York, die ärztliche Aufsicht über die Assistenzberufe gelockert wird: „Solche Maßnahmen unterschätzen die klinische Bedeutung der ärztlichen Erfahrung und überschätzen die Kosteneinsparung durch Nurse Practicioner“, schreibt der Mediziner in einem Beitrag für die New York Times .
60% der Hausärzte in den USA arbeiten regelmäßig mit Nurse Practicionern und Physician Assistants zusammen, stellte eine Studie im Journal of the American Board of Family Medicine 2013 fest. Doch laut einer weiteren Untersuchung im New England Journal of Medicine befürchtet ein Drittel aller Mediziner, dass die Verlagerung von Tätigkeiten auf Assistenzberufe die Sicherheitsstandards absenkt und die Arbeitseffektivität reduziert.
Vor allem Nurse Practicioner erhalten zunehmend mehr Rechte, eigenständig zu behandeln. In 19 US-Bundesstaaten dürfen sie nach Angaben der American Association of Nurse Practicioners bereits ohne ärztliche Aufsicht praktizieren. Bisher nutzt das zwar nur ein kleiner Teil der Nurse Practicioner. Doch Mediziner befürchten, dass die Entwicklung das gesamte Gesundheitswesen verändern könnte. Mehr Eigenständigkeit könnte beispielsweise dazu führen, dass Nurse Practicioner und Physician Assistants in Praxen einen eigenen Patientenstamm beanspruchen.
Mit ihrer kürzeren Ausbildung seien Assistenzberufe nicht gleichwertig mit Ärzten, betont Roy Stoller, Hals-Nasen-Ohrenarzt in New York und Autor von Prüfungsaufgaben für Facharztprüfungen. Nurse Practicioner hätten beispielsweise nicht so eine umfassende Ausbildung in Ätiologie und Pathophysiologie wie Ärzte. „Das wissenschaftliche Studium hat mich eine bestimmte Art zu denken gelehrt. Es ist die Wissenschaft, die dem Arzt hilft, die richtige Diagnose zu stellen.“
Laut Studien arbeiten Nurse Practicioner nicht schlechter als Ärzte
Eine Evidenz, dass Nurse Practicioner tatsächlich die Versorgung verschlechtern, gibt es allerdings nicht. Mehrere große Studien, zuletzt ausgewertet in einem umfassenden Review der Cochrane Collaboration, haben die Behandlungsergebnisse (Outcomes) von Nurse Practicionern und Physician Assistants untersucht. Ergebnis: Die Assistenzberufe erreichen genau so gute Outcomes wie Ärzte, manchmal sogar bessere.
Auch wenn es Kritik am Aufbau der Studien gab – die Ergebnisse haben einige einflussreiche Organisationen in den USA überzeugt. So lautete bereits 2010 eine Forderung des Institute of Medicine (IOM), Nurse Practicionern und Physician Assistants Kompetenzen „im vollen Umfang ihrer Ausbildung“ zuzugestehen.
Die Health Care Cooperative, ein Versorgungssystem von 1.100 Ärzten in Seattle, hat gute Erfahrungen mit den Assistenzberufen gemacht, vor allem auf Notfallstationen. „Sie können eine Vorauswahl treffen und dafür sorgen, dass Patienten schneller behandelt werden“, sagt Dr. David Kauff. Ärzte und Assistenten treffen sich ein- bis zweimal am Tag, um sich über die Patienten auszutauschen. Die Ärzte haben zwar die Leitung dieser Teams. „Aber jede Person hat ihre eigene Expertise“, sagt Kauff, „es gibt Dinge, die Physician Assistants besser können, zum Beispiel eine Platzwunde nähen.“
Von Patientenseite gibt es offenbar wenig Vorbehalte gegen die Assistenzberufe. Nach einer Studie in Health Affairs von 2013 bevorzugen zwar 50% die Behandlung durch einen Arzt. Wenn diese aber mit einer Wartezeit verbunden ist, akzeptieren sie auch einen Nurse Practicioner. Eine andere Studie stellte sogar fest, dass Nurse Practicioner-Patienten signifikant zufriedener sind. Zur Frage, ob Assistenzberufe die Effizienz steigern, sind die Ergebnisse laut einer Veröffentlichung in Medical Care Research & Review gemischt. Offenbar nehmen sich Nurse Practicioner und Physician Assistants teilweise mehr Zeit für die Patienten.
Im ambulanten Bereich übernehmen in den USA Nurse Practicioner und Physician Assistants unter anderem die Wundversorgung und die Beratung von Diabetikern. In ländlichen Gebieten betreiben sie teilweise eigene kleine Behandlungsstationen, quasi als Satelliten der Hausarztpraxen. „Nurse Practicioner haben einen besonders guten Zugang zu den Patienten“, sagt Nurse Practicioner Deonne Benedict, die eine kleine Praxis im Staat Washington betreibt.
Physician Assistant Robert Hollingsworth arbeitet 30 Kilometer von seinem aufsichtsführenden Hausarzt entfernt: „Es ist ein großer Unterschied, ob man allein arbeitet oder der Arzt auf demselben Flur sitzt.“ Die Selbstständigkeit habe ihn sicherer gemacht. „Aber du musst deine Grenzen kennen. Du musst das Selbstvertrauen haben, zu sagen ‚Das kann ich nicht übernehmen.“
60 neue Ausbildungsprogramme
Nicht zuletzt ist es der Mangel an Ärzten, der die Nachfrage nach Assistenzberufen steigert und die Behörden veranlasst, ihnen mehr Verantwortung zu übertragen. Nach Angaben der Personalfirma Merritt Hawkins hat sich der Bedarf an Nurse Practicionern und Physician Assistants von 2011 bis 2014 mehr als verdreifacht. 192.000 Nurse Practicioner und 95.000 Physician Assistants arbeiten bereits in den USA, Tendenz stark steigend: 2013 stellten 60 neue Ausbildungsprogramme einen Antrag auf Zulassung.
Es sind vor allem die großen, eher urbanen Bundesstaaten, die an einer Aufsichtspflicht der Ärzte festhalten. Nurse Practicioner und Physician Assistants müssen dort nach wie vor schriftliche Vereinbarungen mit Ärzten treffen, regelmäßige Besprechungen absolvieren und ihre Tätigkeit überprüfen lassen.
Viele Experten halten das für unnötige Bürokratie. „Nurse Practicioner möchten nicht jedes Mal um Erlaubnis fragen, wenn sie ein Röntgenbild anordnen oder ein Medikament verschreiben“, sagt Prof. Dr. John W. Rowe von der Columbia School of Public Health und ehemaliger Chef der Aetna Versicherung. Vor allem die Versicherungen akzeptierten Nurse Practicioner zunehmend als unabhängige Behandler.
Trotz der rechtlichen Möglichkeiten betreiben allerdings bislang nur rund 3% aller Nurse Practicioner in den USA eine eigene Praxis. Hinderungsgründe sind unter anderem die fehlende Anerkennung durch manche Versicherungen, fehlende Kooperationen mit Kliniken und eine geringere Vergütung.
Die öffentliche Versicherung Medicare etwa zahlt Nurse Practicionern nur 85% der Ärztehonorare. Hausbesuche werden nur vergütet, wenn sie von einem Arzt verordnet werden. Dennoch etablieren sich die bestehenden Nurse Practicioner-Praxen zunehmend im System. 2009 erreichte eine Praxis in New Hampshire als erste die Top-Level-Zertifizierung des National Committee for Quality Assurance (NCQA).
Public Health-Experte wirft Medizinern „Revierkämpfe“ vor
Viele Ärzte sehen die zunehmende Abhängigkeit von Assistenzberufen mit Sorge. Nach einer Umfrage von 2013 glauben 55%, dass die Grundversorgung in 10 Jahren nur noch von Nicht-Ärzten geleistet wird. 65% meinen, die stärkere Einbeziehung der Assistenzberufe beeinträchtige die Qualität. Die American Academy of Family Physicians (AAFP) warnt vor einer Zwei-Klassen-Medizin: „Ein Teil der Patienten wird dann von einem ärztlich geleiteten Team behandelt, der andere von weniger qualifizierten Berufen“, sagt Dr. Roland Goertz, Vorsitzender der AAFP.
Public Health-Experte Rowe dagegen wirft den Medizinern vor, nur ihre wirtschaftlichen Interessen wahren zu wollen: „Es handelt sich um einen Revierkampf, in dem es für die Ärzte um Stolz und um Geld geht.“ Doch auch viele Fachärzte, die aufgrund ihrer Spezialisierung weniger mit den Assistenzberufen konkurrieren, sind alarmiert. „Es geht nicht darum, dass Allgemeinärzte vielleicht weniger verdienen“, sagt Dr. Paul J. Dorio, Radiologe in Florida, „die Sorge gilt einer Aushöhlung klinischer Expertise, die zu einem generellen Qualitätsverlust führen könnte.“
Andere Mediziner plädieren für mehr Gelassenheit. „Die Entwicklung vollzieht sich nicht so schnell“, sagt Dr. Yul David Ejnes, Internist in Rhode Island und ehemaliger Vorsitzender des American College of Physicians (ACP). Die Angst, dass Nurse Practicioner den Ärzten die Patienten wegnehmen, sei unbegründet: „Die meisten möchten lieber im Team arbeiten.“ Anstatt Rückzugsgefechte zu führen, plädiert Ejnes für eine Zusammenarbeit mit Nurse Practicionern im Sinne einer bestmöglichen Versorgung der Patienten. In seiner Funktion als Vorsitzender der ACP hatte er 2008 Vertreter der American Association of Nurse Practicioner zu einem Austausch eingeladen – ein damals historisches Ereignis.
Die Diskussion ist auch deshalb schwierig, weil gesetzlich oft nicht genau definiert ist, was Nurse Practicioner und Physician Assistants dürfen und was nicht. Bisher legt das der aufsichtführende Arzt in einer Vereinbarung mit seinem Assistenten fest. Er kann sich dabei genau an den Fähigkeiten dieser konkreten Person orientieren. Einige Bundesstaaten haben aber mittlerweile übergreifende Regeln für alle Nurse Practicioner und Physician Assistants erlassen. Doch die tatsächliche Kompetenz kann je nach Person stark schwanken.
Dr. Hugh Parker, Kardiologe in Kalifornien, fordert, die Rolle der Assistenzberufe besser zu definieren. „Ich denke, sie haben eine wichtige Rolle, aber die Frage ist, wie diese aussieht.“ Nötig sei ein System der Weiterleitung zu einer qualifizierteren Behandlung, ähnlich wie einer Überweisung vom Hausarzt zum Facharzt. Auch bräuchten Nurse Practicioner und Physician Assistants mehr praktische Erfahrungen in der Ausbildung.
Aufhalten können Ärzte den Trend nicht mehr, sagt Rowe. Wenn die Versorgung im Zuge des Affordable Care Acts („Obama-Care“) ausgeweitet wird, „wäre es ein hohles Versprechen, den Menschen eine Krankenversicherung anzubieten, wenn sie niemanden finden, der sie behandelt“. Mediziner Dorio warnt dagegen vor Konsequenzen, die heute noch nicht absehbar sind: „Das Ziel war ursprünglich, dass Nurse Practicioner und Physician Assistants in unterversorgten Gebieten arbeiten. Aber wir haben keine Kontrolle mehr, wo sie hingehen und was sie tun.“
Dieser Artikel wurde von Heike Dierbach aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
Diesen Artikel so zitieren: Wenn der Nurse-Practioner zum Röntgen schickt: Ärzte in USA warnen vor 2-Klassen-Medizin - Medscape - 20. Mai 2015.
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