Mythen und Fakten – Ärzte und Pflegepersonal sehen Transplantationsmedizin besonders kritisch

Sonja Böhm

Interessenkonflikte

7. Mai 2015

Dr. Thomas Breidenbach

München – Deutschland war im europäischen Vergleich im Jahr 2014 Schlusslicht bei der Zahl der Organspender. Nur rund 850 postmortale Organspenden gab es insgesamt. In Spanien sind es dreieinhalb Mal so viele. Ein Grund sind natürlich auch die Transplantationsskandale. Doch es gibt noch andere. „Ärzte und Pflegepersonal haben entscheidenden Einfluss auf die Meldung und Realisierung von Organspenden“, sagt Dr. Thomas Breidenbach, Chirurg und geschäftsführender Arzt der Region Bayern bei der Koordinierungsstelle Organspende der DSO (Deutsche Stiftung Organtransplantation).

Medizinisches Personal sieht Transplantationsmedizin besonders kritisch

Doch genau hier hapert es. Das medizinische Personal steht Organspenden sogar besonders kritisch gegenüber. Dies hat eine Umfrage in Bayern im Jahr 2014 ergeben, wie Breidenbach beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) in München berichtete [1]. Befragt worden waren alle an einer möglichen Organspende beteiligten Pflegekräfte und Ärzte aus den Bereichen Anästhesie, Intensivmedizin, Neurochirurgie, Neurologie sowie die Operationsteams. Immerhin knapp 3.000 hatten geantwortet.

Das Ergebnis: 18% der Pflegekräfte und 10% der Ärzte bezeichneten ihre persönliche Haltung der Transplantationsmedizin gegenüber als „negativ“. Und nur 69% der Ärzte und sogar nur 52% der Pflegekräfte sagten, sie würden im Falle eines Organversagens selbst eine Transplantation wünschen [2]. Zum Vergleich: In der Allgemeinbevölkerung beträgt diese Rate 85%. Ebenfalls sehr interessant: Mitarbeiter von Kliniken mit Transplantationsmedizin hatten eine negativere Haltung als diejenigen aus den übrigen Krankenhäusern.

Breidenbach führt dieses Ergebnis vor allem auf Informationsdefizite und Fehler früherer Jahre zurück. Breidenbach führt dieses Ergebnis vor allem auf Informationsdefizite zurück.  In der Klinik liege der Fokus auf den Schwerkranken – „und da wird dann der Sinn hinterfragt wenn eine Transplantation schiefgeht“, erläutert er gegenüber Medscape Deutschland. Vor allem die Pflegekräfte fühlten sich bei den Transplantationen oft zu wenig eingebunden, entsprechende Fortbildungen oder eine Supervision fehlten oft. „Die Mediziner sind die Helden, das Team wird zu wenig gesehen.“

 
Es sind maximal 4.000 bis 6.000, die überhaupt jährlich als Organspender laut unserer gesetzlichen Vorgaben in Frage kommen. Dr. Thomas Breidenbach
 

39% der Ärzte und sogar 50% der Pflegkräfte gaben in der Umfrage an, über spezielle Aspekte der Spenderbetreuung, der organerhaltenden Intensivmedizin und der Angehörigenbetreuung nicht ausreichend informiert zu sein. „Aufklärung ist das A und O“, sagte der Chirurg im Gespräch mit Medscape Deutschland. Auch den Hausärzten komme hier eine wichtige Rolle zu, z.B. als Ansprechpartner für die Patienten, wenn diese von ihren Versicherungen wegen der Einwilligung zur Organspende angeschrieben werden.  

Mit nur 850 Spendern im vergangenen Jahr sei die Organspende natürlich „ein seltenes Ereignis“, betonte der Chirurg. Insofern sei es nicht verwunderlich, dass Fortbildungsbedarf bestehe. Nimmt man den Hirntod als Kriterium gibt es laut Breidenbach „maximal 4.000 bis 6.000, die grob geschätzt überhaupt jährlich als Organspender laut unserer gesetzlichen Vorgaben in Frage kommen – die möglichen Ablehnungen nicht mit gerechnet.“ Um die Zahl der Organspenden zu steigern, sei es daher zunächst sinnvoll, bei Ärzten und Pflegepersonal mögliche Informationsdefizite anzugehen.

„Fakten statt Mythen“ hatte er dementsprechend seinen Vortrag überschrieben. Mythos Nummer 1: Bei der Transplantation handele es sich um „ein experimentelles Verfahren“. Es gebe zwar noch experimentelle Bereiche, etwa die Transplantation des Gesichts, oder ganzer Gliedmaßen – doch insgesamt, so Breidenbach, „ist die Organtransplantation heute ein etabliertes Verfahren“. Beispiel  Nierentransplantation: 80.000 Menschen in Deutschland sind dialysepflichtig; rund 8.000 davon stehen auf der Warteliste für eine Transplantation. Es sei eindeutig erwiesen, so der Chirurg, „dass bei diesen Patienten die Transplantation nicht nur die Lebensqualität verbessert, sondern das Leben verlängert“. Doch derzeit beträgt die durchschnittliche Wartezeit auf eine neue Niere in Deutschland 6 bis 8 Jahre.

Nur 15 Prozent der Spender sind Unfallopfer

 
Prinzipiell kommt jeder Hirntote auf einer Intensivstation als Organspender in Frage. Dr. Thomas Breidenbach
 

Insgesamt stehen in der Bundesrepublik etwa 11.000 Menschen auf der Warteliste für ein Organ. Viele von ihnen sterben, bevor sie ein neues Organ erhalten können. „Natürlich sterben diese Menschen nicht am Organmangel, sondern an ihrer Grunderkrankung“, räumte Breidenbach ein. Aber andererseits habe sich der Mangel seit den Transplantationsskandalen verschärft – und einige der Patienten auf der Warteliste könnten mit Sicherheit gerettet werden, wenn sie ein Organ erhielten.

Das Wichtigste, um die Zahl der Organe zu erhöhen, sei, mögliche Spender zu identifizieren – und hier kommen auch schon die nächsten Mythen ins Spiel. Organspender seien meist Unfallopfer, meinen viele. Doch diese machen laut Breidenbach gerade mal 15% der Spender aus. „Prinzipiell kommt jeder Hirntote auf einer Intensivstation als Organspender in Frage.“ Derzeit stammen die Mehrzahl der Organspenden von Menschen, die an intrakraniellen Blutungen gestorben sind.

Eine weitere Fehleinschätzung: Es gebe eine Altersgrenze, ab der man als Spender nicht mehr in Frage kommt. „Dies ist ein verbreiteter Irrglaube“, sagt Breidenbach. Der älteste Organspender in Deutschland war ein 98-Jähriger. In einem anderen Fall ist die Leber einer 97-jährigen Frau, die bei einem Verkehrsunfall gestorben war, einer 64-Jährigen eingepflanzt wurde. Der Rat des DSO-Angestellten: „Rufen Sie uns an, wenn Sie einen Patienten haben, der möglicherweise als Spender in Frage kommt.“

„Der Hirntod ist irreversibel – das ist eindeutig“

 
Nur bei einer Organspende muss vorher der Hirntod festgestellt sein, im ‚Normalfall‘ erfolgt keine Hirntoddiagnostik! Dr. Thomas Breidenbach
 

Eine andere verbreitete Angst: Wer einen Organspendeausweis besitze, werde zu früh für tot erklärt. Der Hirntod sei wohl der umstrittenste Punkt im Zusammenhang mit der Organspende, sagte der Experte. Doch auch hier seien die Bedenken unbegründet. Das Risiko, fälschlich für tot erklärt zu werden, ist eher geringer als bei Nicht-Organspendern. Denn: „Nur bei einer Organspende muss vorher der Hirntod von zwei unabhängigen Ärzten festgestellt worden sein, im ‚Normalfall‘ erfolgt keine Hirntoddiagnostik!“

Der Unterschied zwischen einem Organspender und einem Nicht-Organspender, die beide auf einer Intensivstation für hirntot erklärt werden, bestehe darin, dass beim Nicht-Spender die Maschinen abgestellt werden, während beim Spender die Intensivbehandlung weiterläuft bis zur Organspende. „Der Hirntod ist irreversibel – das ist eindeutig“, so Breidenbach. Es gebe allerdings eine ethische Diskussion darum, ob der Hirntod mit dem Gesamttod des Organismus gleichzusetzen sei. Schließlich ist das Sterben ein Prozess, bei dem die verschiedenen Organe und Strukturen des Organismus ihre Funktion zu unterschiedlichen Zeitpunkten einstellen.  

Ein weiterer heikler Punkt bei der Organspende: das Gespräch mit den Angehörigen. „Es darf dabei kein Druck entstehen“, so Breidenbach. Er empfiehlt, solche Gespräche zu trainieren. Das Problem sei, dass der potentielle Spender, der noch intensivmedizinisch versorgt wird, trotz Hirntod von den Angehörigen „nicht als tot wahrgenommen wird“. Das Gespräch müsse empathisch geführt werden – „der Tod muss von den Angehörigen verstanden werden“.

Breidenbach: „Ohne bekannten Willen des Verstorbenen ist es die schwierigste Frage zum ungünstigsten Zeitpunkt an die unglücklichste Familie.“ Die Organspende sollte als Option präsentiert, aber die Entscheidung der Angehörigen auch respektiert werden. Denn für sie bedeutet dies in der Regel, dass sie sich zwar vom Toten verabschieden können, aber dessen letzten Atemzug nicht mitbekommen.

 
Jeder sollte sich selbst erklären – auch um die Angehörigen zu entlasten! Dr. Thomas Breidenbach
 

Auch die Ablehnung kann hinterher bereut werden

Wichtig sei es, ihnen die notwendige Zeit zu geben, um „eine stabile Entscheidung“ zu treffen. Denn auch eine Ablehnung kann hinterher bereut werden. So hat der ehemalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel in einem Interview berichtet, er habe nach dem Tod seiner Tochter und bei deren Anblick spontan „nein“ gesagt. Doch seine Frau und Kinder hätten später gemeint, ein „Ja“ wäre eher im Sinne seiner Tochter gewesen: „Das hat mich zusätzlich belastet.“

Es ist daher Breidenbachs, wie er sagt, „wichtigste Botschaft“: „Jeder sollte sich selbst erklären – auch um die Angehörigen zu entlasten!“ 

Ein weiteres viel diskutiertes Thema, erst recht nach den Transplantationsskandalen: die Verteilung der Organe. Auch hier gibt es laut Breidenbach ein verbreitetes Mythos: nämlich dass Privatpatienten bei der Vergabe bevorzugt würden. Dies stimme definitiv nicht. Allerdings werden bei der Organvergabe viele verschiedene Aspekte berücksichtigt – darunter auch nicht-medizinische, etwa die Wartezeit. Er wünscht sich daher eine gesamtgesellschaftliche Debatte zu den Vergabekriterien – „das können nicht nur Ärzte entscheiden“.

Nach dem Hirntod gibt es keine Schmerzempfindung mehr

Auch zur Organentnahme gibt es Mythen, etwa die Diskussion darum, ob der Spender noch Schmerzen empfindet und eine Narkose notwendig ist. Klar ist, so Breidenbach: „Die Organentnahme ist keine normale OP, sie ist belastend, denn sie dient nicht dem Patienten auf dem OP-Tisch.“ Daher sollten nach Explantationen Nachbesprechungen mit dem Team stattfinden. Zum Thema Schmerz und Narkose gibt es eine eindeutige Erklärung der Bundesärztekammer: „Nach dem Hirntod gibt es keine Schmerzempfindung mehr“, denn diese ist an das Gehirn gekoppelt. „Es sind keine Maßnahmen zur Schmerzverhütung (z.B. Narkose) nötig.“

Bei den sogenannten Lazarus-Zeichen, die vereinzelt auftreten, handele es sich um spinale Automatismen. Zum Teil werden Medikamente verabreicht, um diese zu unterdrücken. Immer wieder hört man als Argument, in der Schweiz werde die Explantation unter Vollnarkose durchgeführt. Doch auch dies ist ein verbreiteter Irrtum, so Breidenbach: Tatsächlich würden dort  Inhalationsanästhetika gegeben, da es Hinweise gebe, dass diese die Funktion der entnommenen Organe verbesserten.

Nach der Organentnahme sollten die Angehörigen das Recht haben, den Verstorbenen nochmals zu sehen. „Wir ermuntern sie sogar, sich nochmals vom Toten zu verabschieden!“ Dies auch, um Vorbehalten vorzubeugen, die Spender seien nach der Organentnahme entstellt.

Nachbetreuung für Angehörige

Im Übrigen soll die Angehörigenbegleitung nicht mit der Organspende enden. In Bayern z.B. gibt es seit 2005 ein Programm zur Nachbetreuung von Angehörigen von Organspendern. Breidenbach: „Wir schreiben sie 4 bis 6 Wochen nach der Spende an und informieren sie ehrlich, was aus den Organen geworden ist.“

Außerdem treffen sich die Angehörigen regelmäßig zum Erfahrungsaustausch – und auch transplantierte Patienten sind bei diesen Treffen dabei. Dies dient auch dazu noch einem Mythos zu begegnen: Transplantierte hätten auch mit einem neuen Organ kein lebenswertes Leben.

Der Eindruck entstehe manchmal, so der Mediziner, besonders in der Klinik, „denn dort bekommt man vor allem die schlimmen Fälle mit“. Gerade die Knappheit an Organen trage dazu bei, dass oft sehr spät im Verlauf bei bereits Schwerkranken etwa eine Leber übertragen werde. „Natürlich ist die Sterblichkeit dann erhöht.“ Doch viele Empfänger können nach der Transplantation „ein völlig normales Leben“ führen.

 

REFERENZEN:

1. 132. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH), 28. April bis 1. Mai 2015, München

2. Grammenos D, et al: DMW 2014;139:1289-94

 

Kommentar

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