Schon seit längerem wird in Deutschland über ein Screening auf abdominale Aortenaneurysmata diskutiert. Nach den derzeit verfügbaren Daten, gehen Experten davon aus, dass ein Screening die Mortalität von Männern jenseits der 65 senken könnte. Zu diesem Schluss kam auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in seinem Vorbericht und Prof. Dr. Norbert Weiss, Direktor des GefäßCentrums am Universitätsklinikum Dresden betonte diesen Vorteil soeben auf dem Internistenkongress (wie Medscape Deutschland berichtete).

Prof. Dr. Hans-Henning Eckstein
Doch eine Publikation im British Medical Journal zieht nun den Sinn eines solchen Screenings in Zweifel [1]: Das Team um Minna Johansson, Department of Public Health and Community Medicine der Sahlgrenska Academy der Universität Göteborg, schreibt: „Wir sind dafür, das AAA-Screening nochmals zu überdenken.“ Sie haben Bedenken, dass es zu viele Überdiagnosen geben könnte.
Prof. Dr. Hans-Henning Eckstein, Direktor der Klinik und Poliklinik für Vaskuläre und Endovaskuläre Chirurgie am Klinikum rechts der Isar München, widerspricht. „Schon die Terminologie passt nicht – beim Ultraschallscreening auf Bauchaortenaneurysmata gibt es keine Überdiagnosen wie etwa bei Mammografien“, argumentiert er. Vielmehr gelte: „Wenn ein BAA sichtbar ist, hat der Patient auch eines. Das individuelle Rupturrisiko können wir zwar noch nicht berechnen, aber Durchmesser, Wachstumsgeschwindigkeit und Form verraten uns viel.“
Wie viele überleben dank, wie viele ohne Screening?
Während in Deutschland die Einführung eines Screenings erst in der Diskussion ist, ist es zum Beispiel in Schweden, in Großbritannien und in den USA schon eingeführt. Aus Großbritannien stammt die bislang größte Langzeitstudie zu den Auswirkungen, die Multicenter Aneurysm Screening Study (MASS), an der sich Johansson und ihre Kollegen für ihre Berechnungen hauptsächlich orientierten.
An dieser randomisierten, prospektiven Studie nahmen ab den Jahren 1997 bis 1999 insgesamt 67.770 Männer teil, die bei der Rekrutierung 65 bis 74 Jahre alt waren. Eine Hälfte erhielt eine Einladung zum Screening, die Kontrollgruppe nicht. Bei 1.334 Teilnehmern detektierten die Ärzte ein BAA mit einem Durchmesser von 3 cm oder größer, diese Gruppe wurde regelmäßig nachuntersucht. Jene mit besonders großen Aneurysmata (mehr als 5,4 cm), besonders rascher Größenzunahme oder Symptomen wie Schmerzen wurden an Gefäßchirurgen überwiesen. Durchschnittlich 13 Jahre dauerte das Follow-up.
Abschließend zeigte sich, dass es unter den gescreenten Männern 224 Todesfälle mit Bezug zum BAA gab, in der Kontrollgruppe dagegen 381. Für Johansson heißt dies, dass nur 157 (11,8%) dieser Männer aufgrund des Screenings überlebten. Der Rest überlebte das BAA unabhängig vom Screening. Die Autoren der MASS-Studie kamen dagegen zu dem Schluss, dass das Screening die Mortalität aufgrund von BAA fast halbiere.
Unnötige Eingriffe voller Risiken?
Johansson und ihre Kollegen sehen dies anders: Für sie ist ein überdiagnostizierter Patient jeder mit einem positiven Screening-Befund, dessen Aneurysma nicht rupturiert und auch nicht zu schweren, eine OP rechtfertigenden Symptomen führt. Von je 10.000 zum Screening eingeladenen Männern, errechneten die Wissenschaftler, sind somit 176 von einer Überdiagnose betroffen. „Diese Männer werden unnötig in Patienten verwandelt und leiden womöglich die gesamten verbleibenden Lebensjahre hindurch unter erheblichen Ängsten“, so Johansson.
Zudem seien sie unnötigen präventiven Eingriffen ausgesetzt, mit keinem unerheblichen Mortalitätsrisiko, heißt es in der Publikation. Und die überlebenden Operierten? Fast jeder Dritte, rechnen die Autoren hoch, habe erhebliche Nebenwirkungen zu befürchten, darunter ischämische Colitis, Nierenversagen, Infektionen und Impotenz.
Alles in allem kam es in der Screening-Gruppe zu 600 elektiven Operationen und 80 Not-OPs – in der Kontrollgruppe zu lediglich 277 elektiven, aber 166 Notoperationen. Bei den elektiven Operationen starben 4,2% der Patienten binnen 30 Tagen. Im Vergleich dazu steht die 30-Tages-Mortalität, wenn ein BAA rupturiert: Ein Drittel der Patienten stirbt sofort, von den in der Klinik notoperierten Patienten überlebt heutzutage knapp die Hälfte.

Prof. Dr. Giovanni Torsello
Eckstein verblüffen diese Zahlen, und er widerspricht. „Daran sieht man, dass die Autoren nicht direkt mit diesen Patienten zu tun, sondern eine reine Literaturrecherche betrieben haben“, merkt er an. „Die Komplikationsrate liegt hier und heute viel niedriger, und die meisten Probleme bekommen wir rasch in den Griff.“ Sexuelle Funktionsstörungen seien häufig temporär, die Nierenfunktion verbessere sich oft wieder. Die 30-Tages-Mortalität habe zudem drastisch abgenommen, aktuell sei in seiner Klinik von unter 3% nach offenen Eingriffen auszugehen.
Neue OP-Verfahren erfordern neue Risikoberechnungen
Prof. Dr. Giovanni Torsello, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin und Chefarzt der Klinik für Gefäßchirurgie am St. Franziskus-Hospital Münster, ergänzt, dass Johansson und ihre Kollegen sich für ihre Schätzungen an Studien orientierten, in denen vor allem offen operiert worden war und die heute sehr viel häufigeren endovaskulären Eingriffe selten waren.
In der MASS-Studie kamen sie nur bei 12,8% der Operierten zum Einsatz. Derzeit gilt international und auch in Deutschland: „Tatsächlich ist die Gesamtsterblichkeit geringer, da 70 Prozent aller abdominellen Aortenaneurysmen mittlerweile bei uns endovaskulär versorgt werden, mit deutlich niedrigerer Letalität als bei dem offenen Eingriff – ungefähr einem Prozent“, erläutert Torsello. Allerdings geht aus dem Vergleich der beiden Verfahren (offene Operation vs. endovaskulärer Eingriff) in internationalen Studien noch kein eindeutiger Sieger hervor (wie Medscape Deutschland berichtete).
Das liegt auch an den unterschiedlichen Patientenkollektiven und daran, dass sich die Verfahren stetig verändern. Für viele Patienten mit z.B. keinem ausreichenden infrarenalen Aneurysma-Hals oder bestimmten Komorbiditäten kam bislang nur die offene OP infrage, doch das ändert sich gerade, betont Torsello. „Neben der langjährig als Goldstandard etablierten offenen Therapie stellen neue endovaskuläre Techniken wie die fenestrierte endovaskuläre Therapie (F-EVAR) und die Chimney-Technik (CH-EVAR) attraktive Alternativen dar, die besonders für Hochrisiko-Patienten geeignet sind“, erläutert Torsello. „Bei diesen Verfahren steht die minimalinvasive Ausschaltung des Aneurysmas im Vordergrund, ohne die Durchblutung der involvierten reno-viszeralen Zielgefäße zu kompromittieren“, so der Chirurg.
Und selbst für Notfälle gibt es Lösungen: Wenn eine Prothese nicht rechtzeitig maßangefertigt werden könne, habe sich die Chimney-Technik bewährt. „Hier werden mehrere Prothesen teilweise parallel zueinander in die Aorta platziert, sodass die Zielgefäße durchblutet bleiben“, erläutert Torsello. Er prognostiziert: „Mit der Weiterentwicklung dieser Techniken werden immer mehr Patienten von der deutlich schonenderen, Lebensqualität erhaltenden endovaskulären Therapie profitieren können.“
REFERENZEN:
1. Johansson M, et al: BMJ (online) 3. März 2015
Diesen Artikel so zitieren: Debatte um Bauchaorten-Aneurysmen-Screening: Wollen Chirurgen wirklich nur mehr OPs? - Medscape - 28. Apr 2015.
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