Mannheim – Seit 60 Jahren als Chemotherapie etabliert und dennoch nicht besser als die Best Supportive Care – so urteilte Prof. Dr. Jürgen Wolf, Klinik I für Innere Medizin am Universitätsklinikum Köln, über die platinbasierte Chemotherapie beim Bronchialkarzinom auf dem diesjährigen Internistenkongress [1]. „Unterm Strich hat diese Therapie einen Überlebensgewinn von sechs Wochen gebracht“, so sein Fazit auf dem Symposium „Lungenkarzinome: Chemotherapie – ja oder nein?“
„Im Rezidiv geht die Wirksamkeit dann gegen Null. Und selbst die Hinzufügung anti-angiogener Substanzen als Neuerung ändert nichts an dieser Situation. Bevacizumab zum Beispiel bringt einen mittleren Überlebensvorteil von 2 Monaten.“ Dagegen habe die personalisierte Therapie von Bronchialkarzinomen mit spezifischen Mutationen rasante Fortschritte gemacht und ermögliche nach nur wenigen Jahren Entwicklungszeit schon jetzt in vielen Fällen ein progressionsfreies Überleben.
Die Frage ist nicht ob, sondern wann
Nicht alle Kollegen teilen diese Ansicht. Dr. Wilfried Eberhardt, Westdeutsches Tumorzentrum am Universitätsklinikum Essen, hielt dagegen, dass die Chemotherapie mit Cisplatin historisch betrachtet durchaus Effekte erzielte und noch immer erziele. „Die Frage ,Chemotherapie – ja oder nein?' ist falsch gestellt“, sagte er in Mannheim. Sie müsste vielmehr lauten: „Wann braucht sie welcher Patient – denn irgendwann braucht sie jeder.“
Denn auch die personalisierte Medizin ist nicht in der Lage, Lungenkrebs zu heilen. Zwar könne die Progression dank personalisierter Therapie für eine gewisse Zeit gestoppt werden, doch „irgendwann werden die Tumoren wieder progredient. Und dann benötigen die Patienten die pleiotropen Effekte einer Chemotherapie. Daher sollten wir auf keinen Fall eine der beiden Therapien ideologisieren.“
Wolf räumt ein, dass personalisierte Ansätze die konventionelle Therapie zwar nicht ersetzenkönnten, aber sie können eine Verschiebung erreichen. „Wo früher fünf bis sechs Linien Chemo gegeben wurden, können heute bei rund 15 Prozent der Lungenkrebs-Patienten zum Beispiel vier Linien Biologicals und zwei Linien Chemotherapie gegeben werden“, so Wolf. „Und auch, wenn 15 Prozent nach nicht viel klingt: Es sind immerhin mehr Menschen als alle Lymphom-Patienten zusammengenommen.“
Die Chemotherapie zu ersetzen, wo immer dies geht, hält auch Eberhardt für wünschenswert, zumal eine platinhaltige Therapie umso besser wirkt, je länger kein Platin verabreicht wird. „Wenn Sie zwei Jahre lang kein Cisplatin gegeben haben, dann wirkt es wieder super.“
Und mit Blick auf die pleiotropen Effekte der Chemotherapie, bei der die Zelle auf vielen unterschiedlichen Ebenen angegriffen wird, betont Eberhardt: „Wir müssen bedenken, dass alle eingesetzten Medikamente ‚schmutzig‘ sind und Nebenwirkungen haben. Bestes Beispiel ist Crizotinib, das eigentlich als c-Met-Inhibitor entwickelt wurde und dann eine Wirkung an der ALK-Tyrosinkinase hatte. Sie wirken also an unterschiedlichen Kinasen.“ Er gab jedoch zu, dass so genannte EGFR-Inhibitoren offensichtlich tatsächlich nur spezifisch bei EGFR-Mutationen wirken.
Die Biologie der Erkrankung beachten
Die pleiotrope Wirkung der Chemotherapie kann von Vorteil sein, macht sie aber auch unspezifischer. „Die Biologie der Erkrankung wird bei der konventionellen Therapie nicht berücksichtigt“, nennt Wolf als Defizit: „Wir wissen seit etwa fünf Jahren, dass sich die Tumoren aus vielen Unterarten zusammensetzen, die genetisch definiert sind durch so genannte Treibermutationen, die verantwortlich zeichnen für den malignen Phänotypen. Mit Medikamenten, die selektiv diese Treibermutationen blockieren können, kommt man in ganz andere Wirksamkeiten.“
Im EGF-Rezeptor (EGFR) mutierte Patienten zum Beispiel lassen sich mit spezifischen EGFR-Tyrosinkinase-Inhibitoren (EGFR-TKI) bereits deutlich erfolgreicher behandeln als mit Chemotherapien. Diese Mutationen liegen bei 10% aller Lungenkarzinom-Patienten vor. „Das klingt zunächst wenig, doch betrachtet man die Gesamtzahl der Lungenkrebsfälle, dann sind das immer noch sehr viele Patienten“, gibt Wolf zu bedenken.
So konnte eine 2- bis 3-fach erhöhte Ansprechrate auf den EGFR-TKI im Vergleich zur Chemotherapie nachgewiesen werden, außerdem ein drastischer Zugewinn an progressionsfreiem Überleben. „In Nordrhein-Westfalen konnten wir Daten von 4.000 Patienten analysieren“, berichtete Wolf. Demnach überlebten Patienten mit einer EGFR-Mutation, die nur eine Chemotherapie erhalten hatten, im Mittel 9,6 Monate. Mit EGFR-TKI (Gefitinib, Erlotinib oder Afatinib) behandelte Patienten überlebten durchschnittlich 31,5 Monate. „Das macht einen medianen Überlebensvorteil von zwei Jahren aus. Das würde ich als einen wirklichen Fortschritt ansehen.“
Auch gegen Tumoren mit der Treibermutation ALK-r, die rund 3% der Patienten betrifft, gibt es mit Crizotinib bereits einen Wirkstoff, „Auch hier belegen randomisierte Studien die Überlegenheit von Crizotinib gegenüber der Chemotherapie in Erst- und Zweitlinie bei ALK-mutierten Patienten“, legte Wolf dar.
Eine ROS1-Translokation – die dritte unter den bereits behandelbaren Treibermutationen – tritt bei 1% aller Lungenkrebs-Patienten auf. Wolf berichtete von einer etwa 40 Jahre alten Patientin, die bereits 4 Chemotherapien hinter sich hatte „und völlig durchmetastasiert und mit Atemnot kurz vor der Hospiz-Einweisung stand, als sie zu uns kam. Vier Wochen nachdem wir eine Behandlung mit einem ROS-Inhibitor begonnen hatten, ging es der Patientin wieder gut.”
Für zahlreiche weitere Treibermutationen sind derzeit klinische Studien geplant. So sind bei BRAF und RET-r zum Beispiel TKI in klinischer Entwicklung und „es ist jetzt schon absehbar, dass die Wirksamkeit dieser Kinase-Inhibitoren der Chemotherapie überlegen ist“, ist sich Wolf sicher.
Auch bei Rezidiven oft keine Chemo mehr nötig
Mittlerweile gibt es sogar wirksame Medikamente, wenn es bereits zum Rezidiv gekommen ist. So ist auch bei einem Rückfall nach EFGR-TKI-Therapie die Chemotherapie für die meisten Patienten überflüssig geworden. „Allerdings entwickeln rund zwei Drittel von ihnen eine Resistenzmutation“, schränkte Wolf ein. „Die Pharmaindustrie hat jedoch bereits Drittgenerations-Inhibitoren entwickelt, die diese Resistenzen überwinden können und sich in Phase-1-Studien bewährt haben. Einer der Inhibitoren ist bereits im beschleunigten Zulassungsverfahren der FDA.“
Gleiches gilt für ALK-positive Patienten im Rezidiv nach einer Therapie mit dem ALK-Erstgenerationen-Inhibitor Crizotinib. Auch hier ist mit Ceritinib bereits ein Nächstgenerationen-Inhibitor in die klinische Entwicklung gegangen, der molekulare Resistenzmechanismen umgeht und kurz vor der Zulassung steht. Alles in allem heißt das: Sowohl EFGR-mutierte als auch ALK-positive Patienten leben heute schon um Jahre länger unter personalisierter Therapie als unter Chemotherapie.
Bei aller Freude „müssen wir jedoch bedenken“, so Eberhardt, „dass wir noch keine Selektionsmechanismen für die neuen Therapien haben. Es profitieren nicht alle Patienten mit Treibermutationen von den Medikamenten. Das heißt, es gibt hier eine Selektion und wir müssen herausfinden, wer wirklich einen Benefit hat.“
Immuncheckpoint-Inhibitoren als ganz neue Option
Für diejenigen Patienten, für die keine therapeutisch angehbaren Mutationen gefunden werden, tut sich seit kurzem eine andere, unerwartete Option in der Immuntherapie auf: die so genannten Immuncheckpoint-Inhibitoren. Sie lösen an den entsprechenden Schaltstellen des Immunsystems, den Checkpoints, quasi die durch den Tumor ausgelöste Hemmung der T-Zellen des Immunsystems. Damit wird die körpereigene Abwehr gegen die Karzinome reaktiviert.
Es gibt 4 Immuncheckpoint-Inhibitoren, die schon relativ weit in der klinischen Entwicklung sind – darunter Nivolumab (wie Medscape Deutschland berichtete).Bei Plattenepithelkarzinomen haben sie eine Ansprechrate von 22,2%, bei den anderen Lungenkarzinomen eine von 26,3%. Insgesamt zeigen vorbehandelte Patienten unter diesem Inhibitor bei besserer Verträglichkeit ein 3- bis 4-fach besseres Ansprechen als unter der Chemotherapie.
Am 4. März 2015 erhielt Nivolumab von der FDA denn auch die Zulassung als Zweitlinientherapie beim Plattenepithelkarzinom. „Seit dem vergangenen Wochenende ist dieser Überlebensvorteil auch bei Adenokarzinomen belegt”, berichtete Eberhardt. „Dass man in so vielen Fällen schon weg ist von der Chemotherapie, war vor drei oder vier Jahren noch nicht vorstellbar”, freute sich Wolf.
Es laufen derzeit zahlreiche große, globale randomisierte Erstlinien-Studien, die Immuncheckpoint-Inhibitoren mit platinbasierter Chemotherapie vergleichen und „angesichts der guten Ergebnisse zur Zweitlinie würde ich fast darauf wetten, dass sie zumindest keine Unterlegenheit, im einen oder anderen Fall vielleicht sogar eine Überlegenheit zur Chemotherapie ergeben werden“, vermutete Wolf. „Dann sind wir eigentlich schon so weit, alle Patienten mit nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom ohne Chemo behandeln zu können. Das ist etwas, was uns fast alle überrascht hat.“
Letztendlich – so das gemeinsame Fazit beider Experten – werden beide Therapieformen noch länger im klinischen Alltag eingesetzt werden. Dennoch verliert laut Wolf die Chemotherapie aufgrund ihrer marginalen Wirksamkeit dramatisch an Bedeutung und wird immer mehr durch wirksame biologisch rationale Therapien ersetzt werden.
Dieser „etwas radikalere Blick“, wie Wolf seine Einschätzung bezeichnete, „hat aber seine Berechtigung auch mit Blick auf die knappen Forschungsgelder. Wenn wir eine Vision haben, dann werden wir die neuen Ansätze auch im kritischeren Dialog mit der Industrie durchsetzen können. Wir werden schneller vorankommen und die Chemotherapie entsprechend schneller ausdünnen.“
REFERENZEN:
1. 121. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), 18. bis 21. April 2015, Mannheim
Diesen Artikel so zitieren: Wachablösung beim Bronchialkrebs: Genadaptierte, Checkpoint-hemmende Therapien besser als die alte Chemo? - Medscape - 23. Apr 2015.
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