
Dr. Gerd Hasenfuß
Quelle: DGIM
Mannheim – Es war ein zentrales Thema beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) in Mannheim: die neue DGIM-Kampagne, um unnötige medizinische Maßnahmen zu verhindern. Die Initiative „Klug entscheiden“, für die eine spezielle Task-Force „Unnötige Leistungen“ unter Leitung des künftigen DGIM-Vorsitzenden Prof. Dr. Gerd Hasenfuß gebildet worden ist, orientiert sich an dem US-amerikanischen Vorbild „Choosing wisely“.
Kern der Kampagne ist die Forderung an die 11 medizinischen Schwerpunkt-Fachgesellschaften der DGIM, jeweils 5 Beispiele von Maßnahmen zu benennen, die häufig gemacht werden, aber nach der vorliegenden Evidenz für die Patienten nutzlos oder gar schädlich sind. Diesen 5 Beispielen von Überversorgung sollen dann jeweils 5 Beispiele von Unterversorgung gegenübergestellt werden – also von Maßnahmen, deren Nutzen eindeutig belegt ist, die aber viel zu selten angewendet werden.

Dr. Michael Hallek
Quelle: DGIM
Keine Zeit zum Nachdenken – da nicht erstattungsfähig
Den Auftakt beim Kongress der DGIM gab der Medizinethiker Prof. Dr. Giovanni Maio, Freiburg, mit seinem Plenarvortrag „Die ärztliche Kunst der Unterlassens“. Maio habe ihm und vielen internistischen Kollegen „aus der Seele gesprochen“, so der derzeitige DGIM-Vorsitzende Prof. Dr. Michael Hallek, indem er forderte, „das Arztsein wieder mehr in den Mittelpunkt unseres Handelns zu stellen“. Hallek: „Es geht in unserem Beruf um das Erkennen von hochkomplexen Zusammenhängen und die daraus folgende richtige Empfehlung für den Patienten. Dies bedeutet: Zeit und Nachdenken. Und genau das wird weitgehend abgeschafft, da nicht erstattungsfähig.“
Hallek weiter: „Wir haben uns ein System aufzwingen lassen, das alles messbar macht. Wir liefern Produktionsprozesse – das hat mit Arztsein nichts zu tun.“ Es gehe „um das Wesen unseres ärztlichen Handelns, die Ausgewogenheit von Tun und Unterlassen“ – und auf keinen Fall um die Diskreditierung von Ärzten, betonte er.
Die Gründe für eine Überversorgung seien vielfältig, ergänzte Hasenfuß. So werde im Studium und in den Leitlinien oft das Handeln überbetont und zu wenig thematisiert, was man lassen könne. Manchmal seien auch mangelndes Wissen und mangelnde Erfahrung der Grund für zu viel Aktionismus oder die Sorge, etwas Notwendiges zu unterlassen. Und auch das Anspruchsdenken von Patienten begünstigt die Überversorgung ebenso wie es gesundheitspolitische Fehlanreize tun. „Man muss viel wissen, um wenig zu tun“, zitierte Hallek den Medizinethiker Maio.
Kardiologie: Nicht jede Stenose benötigt einen Stent
Bei einer Pressekonferenz und einem Symposium „Choosing Wisely – Klug Entscheiden“ stellten Experten aus 4 Fachrichtungen Beispiele vor, wo sie Hinweise auf eine Überversorgung sehen. Der Göttinger Kardiologe Hasenfuß nannte die Koronardilatationen in Deutschland. Sie sind bei uns so häufig wie in keinem anderen Land: Laut aktuellem Herzbericht waren es im Jahr 2013 knapp 343.000. Doch Hasenfuß: „Nicht jede Stenose muss mit einem Stent versorgt werden.“
Der Verdacht liegt nahe, dass bei uns zu viele Koronarstents gesetzt werden. Hasenfuß zitierte eindeutige Studienergebnisse sowie die Leitlinienempfehlungen, nach denen eine Koronardilatation nur angezeigt ist: bei signifikanten Stenosen und gleichzeitigen Ischämie-Zeichen. Ohne Ischämie hatten in einer randomisierten Vergleichsstudie Patienten, bei denen die Stenose nicht gestentet worden war, sogar ein tendenziell besseres Outcome was kardiale Todesfälle und Herzinfarkte anging – und auch in punkto Symptomatik schnitten sie nicht schlechter ab, als diejenigen, die mit einem Stent versorgt worden waren.
Ob in Deutschland tatsächlich zu viele Patienten mit Koronarstents versorgt werden, lasse sich allerdings erst sagen, „wenn wir die Indikationsqualität prüfen“, so Hasenfuß im Gespräch mit Medscape Deutschland.
Ein weiteres Beispiel aus der Kardiologie – hier allerdings für eine „Unterversorgung“: Die Klasse IA-Leitlinien-Empfehlung für Ausdauertraining bei systolischer bzw. diastolischer Herzinsuffizienz wird in der Praxis zu wenig umgesetzt, beklagte der Kardiologe. Dies sei besonders bei der diastolischen Herzinsuffizienz sehr bedauerlich: „Schließlich handelt es sich hier um die einzige Maßnahme mit nachgewiesener Wirksamkeit bei diastolischer Herzinsuffizienz.“
Choosing wisely in Deutschland: Zehn Beispiele, wo Fachgesellschaften und Experten Überversorgung sehen |
Onkologie: Enge Nachsorge per CT und die Viertlinien-Chemo müssen nicht sein
Aus dem hämatologisch-onkologischen Bereich trug Hallek bei der Veranstaltung Beispiele von Überversorgung bei, so etwa die routinemäßige Überwachung per CT-Scans von Patienten mit aggressivem Lymphom, die mit kurativem Ziel behandelt worden sind. Hallek: „60 bis 90 Prozent der Erkrankungen rezidivieren mit klinischen Symptomen innerhalb eines engen Zeitfensters.“ Auch ein enges Regime mit bildgebenden Verfahren führe oft nicht zu einer deutlich früheren Diagnose – und bringe vor allem, wie Studien zeigten, keinen prognostischen Vorteil für die Patienten. „Wir haben deswegen bei uns bereits die Nachsorge per Bildgebung deutlich reduziert.“
Weitere onkologische Beispiele, bei denen Hallek jeweils Bezug auf die „choosing wisely“-Empfehlungen der US-amerikanischen Krebsfachgesellschaft ASCO nahm: Bei Patienten mit metastasiertem Tumorleiden und schlechter körperlicher Verfassung sollten, wenn 3 unterschiedliche Chemotherapie-Regime die Krankheit nicht stoppen konnten, keine weiteren Versuche unternommen werden: Die Toxizität sei hoch und die Wahrscheinlichkeit eines Therapiererfolgs sehr gering – in der größten dokumentierten Therapie-Serie in den USA, beim kleinzelligen Bronchialkarzinom etwa, betrug die Ansprechrate bei der Drittlinien-Chemotherapie 2%, bei der Viertlinien-Therapie sprach kein einziger Patient mehr an.
Und noch ein weiteres Beispiel: die Anwendung zielgerichteter Krebstherapien, ohne dass zuvor per Gentest die spezifische Mutation nachgewiesen worden ist, gegen die sich die Therapie richtet. Hier sei allerdings das Problem, so Hallek, dass gerade bei solchen Gentests in Deutschland auch noch eine Unterversorgung bestehe.
Diesen Artikel so zitieren: Die Kunst des Weglassens – DGIM-Initiative zur Vermeidung unnötiger medizinischer Leistungen - Medscape - 20. Apr 2015.
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