Leitlinienänderung angemahnt – bei Kreuzschmerz oder Arthrosen schadet Paracetamol mehr, als es nützt

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

17. April 2015

Die Kritik an Paracetamol ebbt nicht ab. Erst im Juli 2014 hatte die PACE-Studie dem beliebten Analgetikum attestiert, bei Kreuzschmerzen zu versagen (wie Medscape Deutschland berichtete). Jetzt legt eine Metaanalyse nach und bekräftigt: Paracetamol kann offenbar nicht nur bei Lumbalgien nicht mehr als ein Placebo, auch bei schmerzenden Knie- und Hüftarthrosen lässt sich lediglich eine klinisch irrrelevante Wirkung feststellen [1]. Stattdessen erhöht sich bei Patienten unter der Einnahme des Analgetikums das Risiko von abnormen Leberwerten um das Vierfache. Dies ist das Ergebnis einer Analyse von insgesamt 13 randomisiert-kontrollierten Studien, die im BMJ veröffentlicht worden ist [1].

Dr. Martin Strohmeier

Dies soll nun Konsequenzen haben: „Die Meta-Analyse ist dazu geeignet, die Empfehlungen von internationalen und deutschen Leitlinien zur Anwendung von Paracetamol bei unteren Rückenschmerzen und Arthrose zu überdenken“, erklärt Dr. Martin Strohmeier, Ehrensenator der Interdisziplinären Gesellschaft für orthopädisch/unfallchirurgische und allgemeine Schmerztherapie (IGOST), einer Sektion der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), im Gespräch mit Medscape Deutschland.

Paracetamol ist schon länger umstritten

Noch wird Paracetamol in den meisten internationalen Leitlinien und auch hierzulande beispielsweise von der „Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerz“ oder der S3-Leitlinie Koxarthrose als zuverlässiges Analgetikum empfohlen. Die Wirksamkeit des Mittels ist allerdings schon länger umstritten.

Vor allem PACE (Paracetamol for Low-Back Pain Study) hat den Ruf von Paracetamol ernsthaft beschädigt: In dieser placebokontrollierten Studie wurde das Analgetikum bei Schmerzen im unteren Rückenbereich getestet und wirkte bei leichten bis moderaten Schmerzen einer akuten Lumbalgie nicht besser als ein Scheinpräparat.

Durchaus zwiespältig fielen auch die Reaktionen auf die letztjährige Entscheidung des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) aus, in deren Leitlinien Paracetamol zum Therapiemanagement der Arthrose weiterhin als Firstline-Therapeutikum empfohlen wird. Denn auch bei dieser Indikation gab es wiederholt Zweifel hinsichtlich der Wirksamkeit, wie das Autorenteam um Gustavo C. Machado, PhD-Student an der University of Sydney, in der aktuellen Publikation schreibt.

13 Studien mit über 5.000 Patienten

Vor dem Hintergrund dieser Kontroverse haben die australischen Wissenschaftler um Machado den Sachstand zur Wirksamkeit und Sicherheit von Paracetamol bei Rückenschmerzen sowie bei Knie- und Hüftarthrosen analysiert.

 
Die Unterschiede zwischen beiden Gruppen sind klinisch unbedeutend. Dr. Martin Strohmeier
 

Die Untersuchung umfasste 13 randomisiert-kontrollierte Studien, die die Wirksamkeit von Paracetamol im Vergleich zu einem Placebo untersucht hatten. 10 dieser Studien mit insgesamt 3.541 Patienten evaluierten dabei die Wirkung des Schmerzmittels bei einer Osteoarthrose des Knies oder der Hüfte, 3 Studien mit zusammen 1.825 Patienten überprüften die Wirksamkeit bei Kreuzschmerzen.

Als primäre Wirkparameter definierten die Autoren kurz- bis längerfristige Änderungen der Schmerzintensität, Einschränkungen bei Aktivitäten und der Lebensqualität. Die Angaben hierfür wurden zur besseren Vergleichbarkeit in einen Score umgewandelt, der von 0 (kein Schmerz/keine Einschränkungen) bis 100 (schwerster Schmerz/schwerste Einschränkung) reichte. Auswirkungen auf die Lebensqualität wurden in einer Studie mit Rückenschmerzpatienten überprüft und dort mit dem Short Form 36 Health Survey gemessen.

Keine klinisch relevante Wirkung ...

Nach der Auswertung der Studiendaten konnten die australischen Wissenschaftler dem Schmerzmittel zwar nicht jegliche Wirksamkeit absprechen. Schließlich ließen sich zumindest bei Arthrosepatienten, die das Analgetikum einnahmen, deutlichere Verbesserungen bei den Parametern Schmerz und Aktivitätseinschränkung feststellen als bei Probanden aus den Placebogruppen.

„Die Unterschiede zwischen beiden Gruppen betrugen jedoch nie über vier Punkte auf den jeweiligen Skalen und sind deshalb klinisch unbedeutend“, so Strohmeier. Aus Wirksamkeitsstudien mit Opioiden wisse man, dass erst ein Unterschied von etwa 20 Punkten von Schmerzpatienten als deutliche Erleichterung wahrgenommen werde, erklärt der in einer Ravensburger Praxis tätige Orthopäde.

Überhaupt keinen statistisch relevanten Unterschied zwischen den Paracetamol- und Placebogruppen fanden die Wissenschaftler zudem bei den Patienten mit Kreuzschmerzen. Hier hatte Paracetamol – sowohl hinsichtlich des Schmerzgrades als auch der Aktivitätseinschränkungen und der Lebensqualität – im Schnitt keine bessere Wirkung erzielt als das Placebo.

 
Man könnte die Resultate auch so interpretieren, dass Placebos bei den Schmerzpatienten genauso gut wirken wie Paracetamol. Dr. Martin Strohmeier
 

„Streng genommen könnte man die Resultate auch so interpretieren, dass Placebos bei den Schmerzpatienten genauso gut wirken wie Paracetamol“, so Strohmeier. Ein Detail, das in ähnlicher Weise auch schon von den Autoren der PACE-Studie diskutiert worden war: Alle Teilnehmer wurden hier bei Studienbeginn von Medizinern darauf hingewiesen, dass bei akutem Rückenschmerz die Chance sehr groß ist, dass er schnell und unkompliziert abklingt. Diese positive Aussicht, so die Wissenschaftler, habe möglicherweise dazu beigetragen, dass alle Patienten – unabhängig von der Medikation – schnell wieder schmerzfrei waren.

... dafür auffällige Leberwerte

Anders als die PACE-Autoren sieht Strohmeier allerdings keinen Bedarf mehr an zusätzlichen kontrollierten Studien. Das Wissen über Paracetamol reiche mittlerweile aus, um die derzeitigen Empfehlungen in den Leitlinien zu überdenken. Eine Rolle spiele dabei auch die Bewertung der – bereits bekannten – lebertoxischen Wirkung des Medikaments, die sich ebenfalls innerhalb der Meta-Analyse von Machado und Kollegen abzeichnet.

In insgesamt 3 der analysierten Studien mit Arthrosepatienten war die Hepatotoxizität anhand der Aktivität der Leberenzyme Alanin-Aminotransferase und/oder Aspartat-Aminotransferase überprüft worden. Zusammenfassendes Ergebnis: Probanden, die das Medikament einnahmen, hatten im Vergleich zu den Patienten in den Placebogruppen ein vierfach erhöhtes Risiko von abnormen Testergebnissen (d.h. die gemessenen Werte waren mindestens 1,5-mal größer als die jeweiligen Referenzwerte). Von schweren Nebenwirkungen hatten die Probanden aus der Paracetamol- und Placebo-Gruppe dagegen gleich häufig berichtet.

„Bei der Interpretation der Ergebnisse muss man allerdings auch die Dosierung berücksichtigen“, sagt Strohmeier. Mit  4 g pro Tag hatte die Mehrzahl der Probanden die vom Hersteller empfohlene Höchstdosis erhalten. Eine Dosierung, deren Sicherheit seit längerem wegen der möglichen Hepatotoxizität umstritten ist. In der NVL Kreuzschmerz wird beispielsweise nur noch eine Tagesdosis von maximal 3 g pro Tag empfohlen, der Behandlungserfolg muss zudem kurzfristig überprüft werden.

Wenn nicht Paracetamol – was dann?

Als Defizit ihrer Analyse räumen die Forscher ein, dass sich die eingeschlossenen Studien fast ausschließlich auf unmittelbare (≤ 2 Wochen) bzw. maximal kurzfristige (> 2 Wochen aber ≤ 3 Monaten) Wirkungen konzentrierten. Aussagen zu langfristigen Effekten könnten sie deshalb nicht machen.

Trotzdem, so schlussfolgern sie, unterstützte ihre Auswertung die Auffassung, dass die Empfehlung von Paracetamol bei Schmerzen im unteren Rückenbereich sowie bei Hüft- oder Kniearthrosen in den verschiedenen Leitlinien überdacht werden muss.

Und auch Prof. Dr. Christian Mallen und Prof. Dr. Elaine Hay vom Research Institute for Primary Care and Health Sciences der britischen Keele University gehen in ihrem Editorial davon aus, dass die neuen Daten von Machado und Kollegen die Debatte um Paracetamol erneut anfachen werden [2].

 
Die vom Hersteller empfohlene Höchstdosis ist eine Dosierung, deren Sicherheit seit längerem wegen der möglichen Hepatotoxizität umstritten ist. Dr. Martin Strohmeier
 

Zudem stellen sie die Frage nach möglichen Alternativen – und zeigen sich von anderen pharmakologischen Möglichkeiten wenig begeistert. So sei etwa der Nachweis der Wirksamkeit von Opioiden bei Rücken- und Arthroseschmerzen begrenzt, schreiben sie, und deren Anwendung könnte zu neuen Opioid-assoziierten Problemen führen. Orale nicht-steroidale Antiphlogistika (NSAID) mögen dagegen zwar effektiv sein, eigneten sich aber nur für kurze Anwendungszeiten bei Patienten ohne Kontraindikationen. Sie sind damit ausgerechnet für die ältere, multimorbide Patientenpopulation oft ungeeignet.

Ihre bevorzugte Behandlungsstrategie fußt denn auch nicht auf Medikamenten. „Nichtmedikamentöse Therapien funktionieren, sind sicher und ihre Vorteile reichen weit über das muskuloskelettale System hinaus“, so Mallen und Hay. Die Aufgabe der Ärzte bestünde deshalb zukünftig vor allem darin, die Patienten zu regelmäßiger körperlicher Aktivität zu motivieren.

 

REFERENZEN:

1. Machado CG, et al: BMJ 2015;350:h1225

2. Mallen C, et al: BMJ 2015;350:h1352

 

Kommentar

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