Mannheim – Bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) gibt es bisher wenige Therapieoptionen. Ob Stuhltransplantationen nützen, ist umstritten. „Man muss beachten, dass Stuhltransplantationen oder besser Fremdstuhlgaben kein grundsätzliches Allheilmittel sind und hier belastbare Daten beispielsweise zu entzündlichen Darmerkrankungen noch ausstehen“, gibt Prof. Dr. Jan Wehkamp, Uniklinikum Tübingen, zu bedenken. „Denn im Fall von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa und Morbus Crohn geht es nicht um eine Monoinfektion wie bei einer Clostridium-difficile-Colitis, sondern um eine komplexe Erkrankung, bei der die Darmflora eher sekundär mukosal verändert zu sein scheint.“

Prof. Dr. Jan Wehkamp
Wehkamp wird bei der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) in Mannheim über seine mittlerweile international anerkannte Theorie sprechen, dass Morbus Crohn (MC) keine primäre Autoimmunerkrankung darstellt, sondern neben anderen Mechanismen durch einen Defekt der Panethzellen im Darmepithel verursacht wird, die dadurch weniger Defensine produzieren. Diese körpereigenen Antibiotika sind damit der Ansatzpunkt für ein neues Therapiekonzept – nicht nur bei CED.
Die Panethzellen wirken angefressen
Gesunde Panethzellen haben auffällige Granula, sitzen im Epithel des Dünndarms und bilden dort körpereigene Antibiotika, so genannte Defensine. Die finden sich normalerweise in hoher Konzentration im Darmschleim und hindern aufgrund ihrer antimikrobiellen Wirkung Bakterien daran, durch die Darmschleimhaut, die Mukosa, ins Darmlumen zu gelangen.
Bei Patienten mit Morbus Crohn findet man Panethzellen, deren Granula wie angeknabbert aussehen, und die Defensine nicht mehr in ausreichendem Maße produzieren. Entsprechend sinkt die Defensin-Konzentration in der Darmschleimhaut und unerwünschte Bakterien, die durch die körpereigenen Antibiotika bislang vom Eindringen in den Darm abgehalten wurden, gelangen durch das Epithel ins Darminnere und verändern das Mikrobiom – so die Theorie von Wehkamp und Prof. Dr. Eduard Stange, Chefarzt am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart.
Durch dieses permanente Eindringen von Mikroorganismen überreagiert das körpereigene Immunsystem, was eine überschießende Entzündungsreaktion zur Folge hat.
Sinkende Defensin-Produktion durch Mutation
Für diese Theorie spricht unter anderem, dass MC nach Erkenntnissen französischer Wissenschaftler mit einer Mutation des NOD2-Gens zusammenhängt. Dieses Gen aber ist gleichzeitig assoziiert mit einer sinkenden Defensin-Produktion im Dünndarm oder im Dickdarm. Das Krankheitsbild MC kann daher nun abhängig von der betroffenen Region des Darms in Dünndarm- oder Dickdarm-MC unterteilt werden.
Bei Colitis ulcerosa dagegen ist die Darmschleimhaut im Dickdarm gestört. Hier funktionieren Becherzellen nicht mehr einwandfrei, die normalerweise Darmschleimhautbestandteile produzieren. Entsprechend dünn ist die Schleimhaut, so dass Defensine ihren schützenden Posten am Darmepithel verlassen und durch die Schleimhaut ins Darmlumen wandern.
So spielt das Mikrobiom, das in seiner Zusammensetzung durch körpereigene Antibiotika wie Defensine gesteuert wird, bei beiden Erkrankungen eine zentrale Rolle. Wehkamp und andere Wissenschaftler, die sich mit der Darmmikrobiota beschäftigen, erhoffen sich daher neue Therapiemöglichkeiten der CED mithilfe von Bakterien.
So zum Beispiel von E. coli Nissle 1917, das die Defensin-Produktion stimulieren und damit die pathogene Durchlässigkeit der Darmschleimhaut rückgängig machen könnte. E coli Nissle 1917 sezerniert außerdem Signalstoffe, die die Durchlässigkeit von Enterozyten im Dünndarmepithel reduzieren.
Defensine als neuer Hoffnungsträger?
Eine noch viel weiterreichende Möglichkeit könnte sich aber in wenigen Jahren auftun. Denn die körpereigenen Antibiotika wirken nicht nur antimikrobiell, sondern auch anti-inflammatorisch. „Sie können als neue Wirkstoffe über die entzündlichen Darmerkrankungen hinaus eine sehr breite Anwendung finden, denn es gibt praktisch keine Zelloberfläche, die keine Defensine herstellt“, erläutert Wehkamp im Gespräch mit Medscape Deutschland.
Die Moleküle können bei der Behandlung von Lungenerkrankungen genauso eingesetzt werden wie gegen Augeninfektionen, denn Defensine finden sich in großer Zahl in der Tränenflüssigkeit und werden von Epithelzellen der Cornea und der Konjunktiva sezerniert. Defensine könnten aber auch Hauterkrankungen sowie Milz- und MRSA-Infektionen lindern. Zudem wirken sie sich positiv auf die Wundheilung aus. „Durch ihre antibiotische Wirkung haben sie nicht zuletzt das Potenzial eines neuen Antibiotikums“, so Wehkamp.
Und noch sehr viel mehr Möglichkeiten könnten sich in Zukunft auftun. In Untersuchungen wurden bei Patienten mit zystischer Fibrose, diffuser Panbroncheolitis, idiopathischer Lungenfibrose, akutem Atemnotsyndrom sowie bei Patienten mit Lungen-Transplantaten erhöhte Defensin-Konzentrationen gefunden.
In Studien haben Forscher darüber hinaus festgestellt, dass bestimmte β-Defensine eine wichtige Rolle in der Angiogenese spielen. Die Peptide wandern einem chemotaktischen Gradienten folgend in Richtung Endothelzellen und regen diese an, neue Blutgefäße zu bilden. An klinischem Potenzial fehlt es diesen Substanzen also nicht.
Industrielle Produktion nach langen Jahren gestartet
So vielseitig sie sind, so hochkonserviert sind sie gleichzeitig. Im Laufe der Evolution blieben sie über Millionen von Jahren identisch – laut Wehkamp ein Beweis für ihre immense Bedeutung für das tierische, menschliche und pflanzliche Immunsystem. Eine Nutzung in der Medizin war bislang nicht möglich, unter anderem weil die komplexen Moleküle lange Zeit nicht künstlich herstellbar waren.
„Ein Versuch war, Reis dahingehend genetisch zu verändern, dass er Defensine produziert. Das hat auch geklappt, aber es gelang niemandem, sie daraus wieder zu isolieren. Ein Patient hätte drei Kilo Reis essen müssen, um therapeutisch bedeutsame Mengen zu sich zu nehmen. Also wurde das Projekt schließlich gestoppt.“
Die rund 35 bis 40 Aminosäuren der Defensine künstlich aneinander zu ketten, ist ein extrem teures Unterfangen, das wirtschaftlich nicht in Frage kommt. Dieses Problem ist nun jedoch gelöst. Ein dänisches Unternehmen, an dem auch Wehkamp beteiligt ist, kann mittlerweile die körpereigenen Antibiotika mit Hilfe von Mikroorganismen rekombinant herstellen. „Wir sind in Gesprächen und glauben, bald einen Partner für eine Phase-1-Studie mit Defensinen zu finden und diese starten zu können“, sagt Wehkamp. „Dann könnten wir womöglich in einigen Jahren für die ersten Defensine zur Behandlung entzündlicher Darmerkrankungen eine Zulassung bekommen. Danach könnten andere Erkrankungen folgen.“
Mehr zum Thema erfahren Sie auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM): z.B. in der Sitzung „Mikrobiota“ Sonntag, den 19. April 2015 um 14:00 Uhr, Saal 2 im Mannheimer Rosengarten.
REFERENZEN:
1. 121. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), 18. bis 21. April 2015, Mannheim
Diesen Artikel so zitieren: Körpereigene Antibiotika – Schlüssel zur Heilung von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen? - Medscape - 15. Apr 2015.
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