Ist 70 das neue 50? Aktuelle Studiendaten zeigen: 75-Jährige sind heute kognitiv fast 20 Jahre „jünger“ als vor zwei Jahrzehnten

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

13. April 2015

Keine Frage ist, dass die Lebenserwartung steigt – in Deutschland und weltweit. Letztlich ungeklärt blieb aber bislang, welche Folgen diese Entwicklung tatsächlich hat. Eine gemeinsame Studie mehrerer Berliner Forschungseinrichtungen hat sich nun einer der zentralen Fragen der Altersforschung genähert [1]:

  • • Werden – wie es das Modell der „Kompression der Morbidität“ beschreibt – chronische Beeinträchtigungen sowie physiologische Alterungsprozesse immer mehr hinausgezögert und auf wenige Jahre vor den Tod komprimiert?

  • • Oder – so beschreibt es das Gegenmodell – werden die durch die höhere Lebenserwartung gewonnenen Jahre in größerem Maße in Krankheit und Behinderung verbracht?

Die Daten, die das Team um Erstautor Prof. Dr. Denis Gerstorf vom Institut für Psychologie der Berliner Humboldt Universität in ihrer Kohortenstudie sammelte und auswertete, weisen in Richtung Kompressionstheorie. So sind, das zeigt die Studie, die 75-Jährigen von heute im Durchschnitt geistig erheblich fitter, weisen ein höheres Wohlbefinden auf und sind insgesamt zufriedener mit ihrem Leben als die 75-Jährigen vor 20 Jahren.

„Die aktuelle Untersuchung liefert einen weiteren Beleg dafür, dass bei gesteigerter Lebenserwartung mehr Lebensjahre in aktiver Gesundheit verbracht werden“, erklärt Prof. Dr. Frieder R. Lang, Leiter des Instituts für Psychogerontologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, auf Nachfrage von Medscape Deutschland.

„Selbstverständlich war dieses Ergebnis nicht“, ergänzt er. Allerdings habe die Befundlage bereits dafür gesprochen. Mit der neuen Studie, deren methodische Umsetzung ausdrücklich von Lang gelobt wird, liegen nun erstmals repräsentative Daten aus einem großstädtischen Raum vor. Vergleiche mit Informationen aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), das seit über 30 Jahren Daten über die deutsche Bevölkerung erhebt, hatten zudem gezeigt, dass die Studienpopulation die Heterogenität der Bevölkerung gut widerspiegelt.

Messung von Kognition und Wohlbefinden

Für ihre Untersuchung verglichen die Forscher 2 Kohorten:

  • • Kohorte Nr. 1 bestand aus Teilnehmern der Berliner Altersstudie (BASE), für die zwischen 1990 und 1993 mehrere hundert Männer und Frauen aus dem Westteil Berlins im Alter zwischen 70 und über 100 Jahren befragt wurden.

  • • Kohorte Nr. 2 setzte sich aus Teilnehmern der Berliner Altersstudie II (BASE-II) zusammen, in deren Rahmen (u.a.) zwischen 2013 und 2014 rund 700 über 60-jährige Berlinerinnen und Berliner auf ihre geistige Leistungsfähigkeit getestet und nach ihrem Wohlbefinden befragt worden waren.

Für ihre Auswertung bildeten Gerstorf und seine Kollegen aus den jeweiligen Studienpopulationen 161 gematchte Paare. Dabei berücksichtigten sie neben dem Geschlecht auch das Alter und die Bildung. Das Durchschnittsalter dieser statistischen Vergleichspaare lag bei 75 Jahren (die jüngste Person war 65 Jahre und die älteste 89 Jahre alt).

In beiden Kohorten untersuchten die Wissenschaftler 2 zentrale psychologische Domänen: die Kognition und das Wohlbefinden. Die kognitive Leistungsfähigkeit wurde mit einem Zahlen-Symbol-Test gemessen. Hierbei sollten die Testpersonen innerhalb von 90 Sekunden einer Serie einfacher Ziffern abstrakte Symbole zuordnen.

 
Die aktuelle Untersuchung liefert einen weiteren Beleg dafür, dass bei gesteigerter Lebenserwartung mehr Lebensjahre in aktiver Gesundheit verbracht werden. Prof. Dr. Frieder R. Lang
 

Der Wert für das Wohlbefinden setzte sich aus der Einstellung gegenüber dem eigenen Altern (Philadelphia Geriatric Center Morale Scale, PGCMS) sowie Messungen positiver und negativer Affektivitäten zusammen (Positive and Negative Affect Schedule, PANAS). Um die persönliche Einstellung zum Altern zu messen, sollten die Probanden 3 Sätze (wie z.B. „Es gibt viele Dinge, die mich traurig machen“) bewerten. Dazu erhielten sie fünffach gestufte Antwortmöglichkeiten (von „ich stimme vollkommen zu“ bis „ich stimme überhaupt nicht zu“). Die PANAS hielt die Häufigkeit von positiven (z.B. aktiv, begeistert) und negativen Gemütszuständen (z.B. nervös, bekümmert) im Jahr vor der jeweiligen Befragung der Probanden fest.

Das Alter wird jünger

Schlagzeilen wie „70 ist das neue 50“ spiegeln wider, dass sich die heutigen Senioren im Vergleich zu früheren Generationen viel jünger fühlen. Die Untersuchungen von Gerstorf und Kollegen zeigen nun, dass dies mehr ist als nur ein Gefühl. Zumindest hinsichtlich der kognitiven Leistungsfähigkeit erwiesen sich die BASE II-Probanden laut der aktuellen Daten tatsächlich als 19,61 Jahre „jünger“ als die BASE-Teilnehmer.

Und auch bei den 3 Indikatoren fürs Wohlbefinden zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen beiden Kohorten. So kamen die später geborenen Probanden besser mit dem eigenen Altern zurecht (Cohens d [Effektgröße für Mittelwertunterschiede] = 0,39), und sie hatten sich im Jahr vor der Befragung häufiger in einem positiven (Cohens d = 0,64) und seltener in einem negativen (Cohens d = –0,39) Gemütszustand befunden.

Geistig fitter und zufriedener – das zahlt sich auch für die Gesellschaft aus

 
Die Zugewinne, die wir an kognitiver Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden in Berlin gemessen haben, sind beträchtlich und von großer Bedeutung für die Lebensqualität im Alter. Prof. Dr. Ulman Lindenberger
 

„Die Zugewinne, die wir an kognitiver Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden in Berlin gemessen haben, sind beträchtlich und von großer Bedeutung für die Lebensqualität im Alter“, kommentiert Co-Autor Prof. Dr. Ulman Lindenberger, Direktor des Forschungsbereichs Entwicklungspsychologie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, die neuen Erkenntnisse in einer Pressemitteilung.

Letztlich könne die Studie so auch die verbreitete Sorge vor einer Kostenexplosion infolge der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft dämpfen, meint Lang. „Die älteren Menschen sind heute eher in der Lage, noch einen aktiven Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Sie übernehmen beispielsweise ehrenamtliche Tätigkeiten oder Aufgaben in der Familie. Und sie konsumieren“, so Lang.

 

REFERENZEN:

1. Gerstorf D, et al: Psychol Aging (online) 23. März 2015

 

Kommentar

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