Neuroborreliose: Das „Chamäleon“ unter den Notfällen kann auch mit typischen Symptomen eines Schlaganfalls daherkommen

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

24. März 2015

Eine akute Neuroborreliose kann offenbar in seltenen Fällen auch mit einem Schlaganfall verwechselt werden. Das geht aus einem aktuellen Fallbericht hervor, den französische Ärzte soeben in den Annals of Emergency Medicine veröffentlicht haben [1]. Darin wird erstmals eine neurologische Manifestation der Lyme-Borreliose mit akut einsetzenden Sprachstörungen und motorischen Defiziten beschrieben.

Dr. Arseny A. Sokolov und seine Kollgen vom Département des Neurosciences Cliniques, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois in Lausanne dokumentieren den Fall einer 16 Jahre alten Teenagerin. „Alle Symptome wiesen auf einen Schlaganfall hin: Sprachdefizite, Verständnisstörungen und rechtsseitige Gesichts- und Armschwäche“, erläutert Sokolov den Zustand der Patientin bei ihrer Vorstellung im Krankenhaus in einer Pressemitteilung. Der zunächst von den Ärzten vermutete Hirninfarkt bestätigte sich allerdings nicht – die neurologischen Beschwerden konnten stattdessen auf eine Borrelien-Infektion zurückgeführt werden.

Die Neuroborreliose ist das „Chamäleon“ unter den Notfallerkrankungen

Bislang liegen keine verlässlichen Daten über die Häufigkeit der (Neuro-)Borreliose in einzelnen europäischen Ländern vor. Borrelien-spezifische Antikörper finden sich je nach Endemiegebiet und Altersgruppe in Deutschland bei 5 bis 25% der gesunden Personen. Nach Untersuchungen aus Deutschland ist nach einem Zeckenstich bei 0,3 bis 1,4% der Betroffenen mit einer manifesten Erkrankung zu rechnen. Etwa 3% davon entwickeln eine Neuroborreliose [2].

Prof. Dr. Sebastian Rauer

„Die ungewöhnliche Manifestation (im vorgestellten Fall) unterstreicht, dass die Lyme-Neuroborreliose ein ‚Chamäleon’ unter den in Notfallambulanzen relevanten Krankheiten ist“, schreiben Sokolov und Kollegen in ihrer Publikation. Und sie fügen hinzu, dass Mediziner die Neuroborreliose gerade in endemischen Gebieten als Differentialdiagnose in Betracht ziehen sollten.

Routinediagnostik schützt vor Verwechslungsgefahr

Eine generelle Empfehlung, Patienten mit Schlaganfallsymptomatik auch auf Borreliose zu testen, ließe sich jedoch nicht aus dem Fallbericht ableiten, stellt Prof. Dr. Sebastian Rauer, Leitender Oberarzt der Neurologischen Universitätsklinik Freiburg, im Gespräch mit Medscape Deutschland klar. Zwar sei „die Gefahr einer neurologischen Komplikation bei der Lyme-Borreliose durchaus real und für die betroffenen Patienten höchst relevant“. Aber dass Mediziner reihenweise eine Neuroborreliose mit einem Schlaganfall verwechseln könnten, schließt er aus.

Zunächst einmal sei eine Manifestation, die die Gefahr einer Verwechslung mit einem Hirninfarkt mit sich bringt, extrem selten. Rauer selbst erinnert sich nur an 2 ähnlich gelagerte Fälle, die ihm während seiner rund 20-jährigen Tätigkeit in der Freiburger Neurologie begegneten. Und zum anderen würden die modernen bildgebenden Verfahren in der heutigen Routinediagnostik sowie sich anschließende Liquor- und Serumuntersuchungen die Ärzte zügig auf die richtige Spur führen. Das habe nicht zuletzt auch der umfassende Fallbericht der französischen Kollegen zeigen können.

Die akuten Symptome deuteten auf einen Schlaganfall

Der Teenager war nach eigenen Ausführungen am Morgen nach einer Party zunächst verwirrt und mit starken Kopfschmerzen aufgewacht. Bei der Vorstellung in einem Notfallzentrum wurden zudem rechtsseitige Lähmungserscheinungen im Gesicht und im Arm sowie Sprachdefizite festgestellt. Im Falle eines – zu diesem Zeitpunkt noch vermuteten – ischämischen Infarkts wäre eine rasche Lyse-Therapie angezeigt gewesen. Zuvor sollte eine Computertomografie des Gehirns durchgeführt werden – eine Routinediagnostik, mit der andere Hirnanomalien abgegrenzt werden, die eine Kontraindikation für eine Antikoagulationstherapie darstellen könnten (z.B. eine Hirnblutung).

 
Alle Symptome wiesen auf einen Schlaganfall hin: Sprachdefizite, Verständnisstörungen und rechtsseitige Gesichts- und Armschwäche. Dr. Arseny A. Sokolov
 

Die Patientin wurde dafür per Helikopter in eine medizinische Klinik verlegt, die sie 3 Stunden nach Einsetzen der Symptome erreichte. Eine Lyse-Therapie wäre damit theoretisch immer noch möglich gewesen, da sie sich noch in dem (bislang nur für Erwachsene festgelegten) Zeitfenster von 4,5 Stunden befand.

Vor Ort konnten die Ärzte dann zwar keine motorischen Defizite im Gesicht oder Arm mehr feststellen, die Sprachstörungen waren aber nach wie vor vorhanden. Die Ärzte tippten auf eine links-fokale temporoparietale Läsion. Als wahrscheinlichste Auslöser hierfür kam für sie ein ischämischen Infarkt oder eventuell ein epileptischer Anfall in Frage.

Dass eine Drogenintoxikation mit dem Zustand der Patientin in Zusammenhang stand, hielten die Mediziner dagegen für unwahrscheinlich. Zumindest war die Patientin die letzten 16 Stunden vor Aufnahme ins Krankenhaus stets in Begleitung gewesen und zeigte auch keine Krampfanfälle. Eine umfangreiche toxikologische Untersuchung blieb ebenfalls ohne Ergebnis.

Kein ischämischer Infarkt im Gehirn – dafür entzündungstypischer Liquor

Im weiteren Verlauf zeigte sich dann, dass die Ärzte mit ihren ersten Vermutungen falsch gelegen hatten. So ermittelten sie mittels CT-Angiographie nicht wie erwartet ein fokales Perfusionsdefizit, welches einen ischämischen Infarkt bestätigt hätte. Stattdessen sahen sie eine Überperfusion im Bereich des linken temporoparietalen Übergangs.

Dass dieser Hyperperfusion ein epileptischer Anfall zugrunde lag, konnte zügig mittels EEG ausgeschlossen werden. Um schließlich eine Erklärung für die organische Hirnfunktionsstörung zu finden, wurde in einem nächsten Schritt eine Lumbalpunktion vorgenommen. Dabei fand sich ein entzündungstypischer Liquor, u.a. mit erhöhter Leukozyten- (74/mm3) und stark erhöhter Proteinkonzentration (335 mg/dl).

 
Die Gefahr einer neurologischen Komplikation bei der Lyme-Borreliose ist durchaus real und für die betroffenen Patienten höchst relevant. Prof. Dr. Sebastian Rauer
 

Die Patientin erhielt daraufhin umgehend eine unspezifische antibakterielle und antivirale Kombinationstherapie aus Ceftriaxon, Amoxicillin/Clavulanate und Aciclovir. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Die Autoren berichten, dass sich der Zustand der Patientin sofort nach Behandlungsbeginn substantiell besserte.

Gesonderte Empfehlungen lassen sich nicht ableiten

In der mikrobiellen Analyse konnten dann am nächsten Tag Borrelien-spezifische IgM- und IgG-Antikörper sowie das B-Zell anziehende Chemokin CXCL13, ein Biomarker der akuten Neuroborreliose, im Serum nachgewiesen werden. Als Konsequenz erhielt die Patientin für die folgenden 4 Wochen nur noch Ceftriaxon, ein auch von den S1-Leitlinien „Neuroborreliose“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie empfohlenes Antibiotikum [2]. Die klinische Entwicklung der Patientin nach 6 Monaten wird in der Publikation als exzellent beschrieben.

„Die Ärzte folgten in ihrer Vorgehensweise den derzeit gültigen Standards“, erklärt Rauer, federführender Autor der aktuellen Neuroborreliose-Leitlinie. Gesonderte Empfehlungen – das habe der Fall gezeigt – seien deshalb auch nicht nötig. Allerdings würde es auch nicht schaden, die Möglichkeit einer Borrelien-Infektion bei einer akuten Schlaganfallsymptomatik im Hinterkopf zu haben, meint er.

 

REFERENZEN:

1. Sokolov AA, et al: Ann Emerg Med. (online) 25. Februar 2015

2. Deutsche Gesellschaft für Neurologie: S-1-Leitlinie „Neuroborreliose“; September 2012

 

Kommentar

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