Patienten, bei denen vor kurzem eine myalgische Enzephalomyelitis – auch Chronisches Erschöpfungssyndrom oder kurz ME/CFS genannt – diagnostiziert worden ist, weisen deutliche Veränderungen im Zytokinmuster des Blutplasmas auf. Das zeigte sich jetzt im Rahmen einer Studie, für die Daten und Blutproben aus 2 großen Multicenter-Kohortenstudien analysiert worden waren.
Wie die Studienautoren feststellten, aktiviert ME/CFS innerhalb der ersten 3 Jahre nach dem Ausbruch der Erkrankung sowohl proinflammatorische als auch antiinflammatorische Zytokine. Gleichzeitig erweist sich das Zusammenspiel zwischen den Zytokinen als gestört. „Ein potenzieller Biomarker für die Diagnose dieses Leidens könnte damit bestimmt sein“, betonen die Autoren.
Ein Team um Dr. Mady Hornig vom Center for Infection and Immunity und Department of Epidemiology, Columbia University Mailman School of Public Health, New York, veröffentlichte die Ergebnisse jetzt im Journal Scientific Advances [1].
Bisher vermutlich 90 Prozent der Erkrankten nicht diagnostiziert
Für viele Mediziner und für Patienten-Organisationen ist diese Meldung Anlass zur Freude und zur Hoffnung. Obwohl Schätzungen zufolge weltweit 17 Millionen Menschen an einem chronischen Erschöpfungssyndrom leiden – 300.000 davon allein in Deutschland –, sind die Therapiemöglichkeiten bislang sehr begrenzt.
Viele Patienten fühlen sich nicht ernst genommen, die Symptome wie lähmende Müdigkeit trotz ausreichendem Schlaf, orthostatische Intoleranz, Kopf-, Gelenk- und Muskelschmerzen führen meistens über Monate bis Jahre zu Fehldiagnosen.
Das zur US-National Academy of Sciences gehörende Institute of Medicine (IOM) hat im Februar nach ausführlicher Literatur-Bestandsaufnahme unter anderem neue Diagnosekriterien für ME/CFS vorgeschlagen [2]. 9 von 10 Patienten, so schätzen die IOM-Autoren, sind zurzeit nicht diagnostiziert.
Die Hauptbotschaft des Berichts fasste die Vorsitzende des IOM-Komitees, Ellen Clayton, bei der Pressekonferenz wie folgt zusammen: „ME/CFS ist eine ernste, chronische, komplexe Multisystemerkrankung, die die Aktivitäten der Patienten immer wieder und dramatisch limitiert.“
Das IOM weist weiterhin auf die desolate Forschungssituation hin: „Die Erforschung der Ätiologie, Pathophysiologie und effektiven Behandlung dieser Krankheit war bislang bemerkenswert unterfinanziert, vor allem wenn man in Betracht zieht, wie viele Menschen davon betroffen sind“, so der IOM-Report. Er weist auch darauf hin, dass ein Viertel aller Erkrankten langfristig an Haus oder Bett gebunden bleiben – und das, obwohl das Gros der Patienten bei Erkrankungsbeginn erst 30 bis 45 Jahre alt ist.
Das IOM kommt zu folgendem Schluss: „Viele im Gesundheitswesen sind skeptisch, ob man ME/CFS ernst nehmen kann. Sie halten die Erkrankung fälschlicherweise für eine psychische Störung oder für ein Hirngespinst des Patienten. Diese Fehlvorstellungen oder die abweisenden Haltungen von Gesundheitsdienstleistern machen den Weg bis zur Diagnose für viele Patienten lang und frustrierend. Unser Komitee betont, dass alle im Gesundheitswesen anerkennen sollten, dass ME/CFS eine ernsthafte Erkrankung ist, die eine frühzeitige Diagnose und angemessene Versorgung erfordert.“
Klinische Datensätze aus zwei großen Multicenter-Kohortenstudien untersucht
Für die Studie analysierten die Forscher klinische Datensätze aus 2 großen Multicenter-Kohortenstudien und untersuchten 51 Zytokine die mit der Diagnose von ME/CFS in Zusammenhang stehen. Den einen Datensatz hatte das National Institute of Allergy and Infectious Diseases zur Verfügung gestellt, den anderen die Chronic Fatigue Initiative.
In der Kohorte der Chronic Fatigue Initiative genügte es, wenn die Teilnehmer (Alter: 18–65 Jahre) die ME/CFS-Kriterien der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) oder die Canadian Consensus-Kriterien für ME/CFS erfüllten. Bei den CDC muss für diese Diagnose die Erschöpfung schon seit mindestens 6 Monaten bestehen und Arbeit wie Alltagsaktivitäten behindern. Dazu müssen 4 Symptome wie Konzentrationsverlust, Kopf- oder Muskelschmerzen bzw. fehlende Erholung nach Schlaf kommen. In Kanada müssen zusätzlich unter anderem mindestens 2 neurologische/kognitive Auffälligkeiten vorliegen.
Beim National Institute gab es strengere Diagnosekriterien: Die Patienten im Alter zwischen 18 und 70 Jahren mussten sowohl Kriterien aus den USA als auch aus Kanada erfüllen. Zudem musten alle Patienten eine Prodromalphase wie nach einem Virusinfekt durchlebt haben.
Insgesamt umfassten die Studien 52 erwachsene Patienten, bei denen die Symptome binnen der letzten 3 Jahre eingesetzt hatten (die Diagnose lag kürzer zurück), 246 Patienten mit einer Krankheitsdauer von mehr als 3 Jahren und 348 Kontrollgruppenteilnehmer mit zu den Patienten passendem Alter, Geschlecht und anderen Ähnlichkeiten (z.B. Jahreszeit der Blutprobenentnahme, geografische Ähnlichkeiten). Alle Plasmaproben wurden zur selben Tageszeit unter kontrollierten Bedingungen und mit etwas Stress (durch das Ausfüllen von Studienformularen) entnommen.
Diesen Artikel so zitieren: Von wegen psychosomatisch: Auffällige Zytokine als Biomarker des Chronischen Erschöpfungssyndroms - Medscape - 20. Mär 2015.
Kommentar