
Dr. Wolfram Hartmann
Den Todesfall, der derzeit für so viel Diskussion unter Ärzten und Politikern sorgt, hätte es eigentlich gar nicht geben dürfen. Denn Masern sollten bis 2015 in Deutschland ausgerottet sein, zumindest hatte die Bundesregierung dies der Weltgesundheitsorganisation (WHO) versprochen. Trotzdem starb im Februar ein Kleinkind an dem gefährlichen Virus.
Hilflos der Impfmüdigkeit mancher Deutscher gegenüber fordern nun zunehmend mehr Politiker und Ärzte eine Impfpflicht. Doch ist dies tatsächlich die beste Lösung? Medscape Deutschland sprach mit Dr. Wolfram Hartmann, dem Präsidenten des Berufsverbandes der deutschen Kinder- und Jugendärzte.
Medscape Deutschland: Ist es ethisch vertretbar, Eltern bzw. ihre Kinder zu einer Impfung zu zwingen?
Dr. Hartmann: Als Kinder- und Jugendarzt bin ich der Meinung, dass jedes Kind das Grundrecht auf eine bestmögliche medizinische Versorgung hat. Dazu gehört auch der Schutz vor Krankheiten, die verhindert werden können. Doch leider ist man in diesem Land noch immer der Auffassung, dass Elternrecht vor Kindeswohl geht. Das ist ein grundlegendes Problem unseres Grundgesetzes.
Medscape Deutschland: Dass sich Kinder- und Jugendärzte für eine Impfpflicht aussprechen, ist wenig überraschend. Aber wie steht es um Unterstützer aus der Politik?
Dr. Hartmann: Zumindest die Entwicklung ist derzeit positiv. Auf der vergangenen Gavi-Konferenz haben nun auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und Bundesentwicklungsminister Gerd Müller die nachlassende Impfbereitschaft kritisiert. Zudem hat Gröhe erst kürzlich gesagt, dass er sich eine Impfpflicht grundsätzlich vorstellen kann. Das ist bereits ein Erfolg. Von Seiten Bündnis 90/Die Grünen und der Linken gibt es dagegen leider noch immer wenig Einsicht.
Zudem gibt es von der Bevölkerung selbst viel Unterstützung. Auch wenn wir in den Medien und im Internet oft ein anderes Bild präsentiert bekommen – die Impfgegner sind die deutliche Minderheit. Umfragen zeigen, dass sich über 80 Prozent der Deutschen für Impfungen aussprechen; aus Studien wissen wir, dass mehr als 95 Prozent der Kinder die erste Masernimpfung erhalten.
Medscape Deutschland: Wie kommt es bei so viel Unterstützung noch immer zu Masernausbrüchen wie derzeit in Berlin?
Dr. Hartmann: Derzeit erkranken vor allem junge Erwachsene, die in den 80er geboren worden sind. Einige von ihnen haben selbst keine Masern mehr bekommen, sind aber auch nicht geimpft worden, und damit jetzt für eine Infektion gefährdet. Ein anderes Problem ist, dass nicht jedes Kind die zweite Impfung erhält und damit nicht sicher vor Masern geschützt ist.
Medscape Deutschland: Mit der Impfpflicht erwischt man diese Population aber wohl nicht.
Dr. Hartmann: Nein, hier bedarf es dringend weiterer Initiativen. Leider ist alles, was derzeit von der Bundesregierung kommt, nur halbherzig. Denken Sie nur einmal an die Aktion „Deutschland sucht den Impfpass“. Glauben Sie wirklich, dass sich aufgrund der paar Plakate auch nur irgendein Deutscher dazu aufrafft, seinen Impfschutz überprüfen zu lassen? Da wurde früher einmal mehr getan, beispielsweise mit der Fernsehkampagne für die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung und öffentlichen Impfterminen.
Medscape Deutschland: Aber eine Impfpflicht gab es auch damals nicht. Befürchten Sie nicht, dass der Zwang zur Impfung aus Skeptikern tatsächliche Impfgegner machen könnte?
Dr. Hartmann: Wir haben eine Anschnallpflicht, eine Helmpflicht und eine Schulpflicht, von denen sich Eltern auch nicht in ihrer erzieherischen Freiheit eingeschränkt fühlen. Das wird bei der Impfpflicht auch nicht anders sein. Aus der Praxis weiß ich außerdem, dass sich Eltern eher für eine Impfung ihrer Kinder entscheiden, wenn sie es tatsächlich müssen – wie derzeit beispielsweise bei einem Schuljahr in den USA oder bei einer Fernreise. Wenn der Urlaub oder der Schüleraustausch auf dem Spiel stehen, fällt die Entscheidung für eine Impfung plötzlich gar nicht mehr schwer.
Medscape Deutschland: Womöglich ist die Impfpflicht in Deutschland aber schlechter durchzusetzen. Die von Ihnen erwähnte Schulpflicht würde es beispielsweise nicht erlauben, ungeimpften Kindern den Besuch einer Schule zu verwehren.
Dr. Hartmann: Das ist so nicht richtig. Ich kann ungeimpften Kindern den Zugang zu einer öffentlich finanzierten Kita oder Schule verwehren. Als Alternative können Eltern dann immer noch eine private Kita oder Schule wählen.
Medscape Deutschland: Die Frage ist, ob Eltern ohne ausführliche ärztliche Beratung all dies auch nachvollziehen können. So empfiehlt beispielsweise die STIKO, dass jeder Arztbesuch auch zur Impfberatung genutzt werden sollte. Ist das eine realistische Forderung?
Dr. Hartmann: Unseren Erkenntnissen nach wird in allgemeinmedizinischen und internistischen Praxen häufig nur auf die Grippeschutzimpfung geachtet. Andere Impfungen sind meist nur beim Kinder- und Jugendarzt ein Thema. Tatsächlich kann einem Vertragsarzt aber die Zulassung entzogen werden, wenn er nicht den Impfpass kontrolliert und ausführlich über Impfempfehlungen des G-BA informiert. Einem Arzt aus Österreich, der dieser Pflicht nicht nachgekommen ist, wurde vor einigen Jahren die Approbation für 3 Jahre entzogen. Ich hoffe, dass mit dem Präventionsgesetz auch Impfungen öfter als selbstverständliche und wichtige Präventionsmaßnahme verstanden werden, sowohl von Politikern als auch von Ärzten.
Diesen Artikel so zitieren: Debatte um die Masern-Impfpflicht: „Kindeswohl geht vor Elternrecht“ - Medscape - 2. Mär 2015.
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