Eine aktuelle Studie, publiziert in den Annals of Internal Medicine, bestätigt etwas eigentlich Offensichtliches: Es ist schwer, die Zukunft vorherzusagen – vor allem wenn es um kardiovaskuläre Ereignisse geht.
Kardiovaskuläre Erkrankungen sind bekanntlich die Todesursache Nummer 1. Die erste Manifestation ist oft ein Infarkt, ein Schlaganfall oder sogar der Tod, und wir wissen, dass alle Medikamente ihre Einschränkungen haben. Die medikamentöse Behandlung von gesunden Menschen, um einem Ereignis vorzubeugen, das vielleicht, aber vielleicht auch nicht eintreten wird, ist heikel. Im Hinterkopf hat man dabei vor allem eins: ‚Ich will nicht schaden‘.
Genau hier kommt die Risikovoraussage ins Spiel. Man muss wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit etwas (oder nichts) eintreten wird. Die Nutzen/Risiko-Relation von Statinen und Acetylsalicylsäure (ASS) z.B. ist bei denjenigen Patienten am besten, die das höchste Risiko für ein Ereignis haben.
Doch wo ziehen wir die Grenze? Welches künftige Risiko ist es wert, dauerhaft einen Arzneistoff einzunehmen? Bei den Extremfällen ist die Entscheidung leicht: Fast jeder würde zustimmen, dass ASS und Statine einen ausreichenden Benefit bieten, wenn Patienten bereits ein kardiovaskuläres Ereignis hinter sich haben. In der Sekundärprävention ist das künftige Risiko hoch, so überwiegt der Nutzen klar die Risiken. Das Gegenteil ist bei Patienten mit sehr niedrigem Risiko der Fall. Doch dazwischen ist die Entscheidung eben nicht so einfach.
Hier bedient man sich dann verschiedener Hilfsmittel in Form von Risikokalkulatoren, um Aussagen zur Wahrscheinlichkeit eines kardiovaskulären Ereignisses zu machen. Wir kennen einige Faktoren, die dieses künftige Risiko beeinflussen: etwa Alter, Geschlecht, Blutdruck, Diabetes, Rauchen, Biomarker, die Familienanamnese oder koronares Calcium.
Verschiedene Expertenpanels, u.a. das American College of Cardiology (ACC) und die American Heart Association (AHA) haben verschiedene Risikorechner erstellt. Der ACC/AHA-Risikokalkulator für atherosklerotische Erkrankungen (ASCVD) hat dabei einige Debatten ausgelöst, weil viele Experten meinen, dass er das Risiko zu hoch einschätzt.
Die Annals-Studie: Fehleinschätzungen durch einige Risikokalkulatoren
Dr. Andrew DeFillippis von der University of Louisville, Kentucky, und ein Team der Multi-Ethnic Study of Atherosclerosis (MESA) haben anhand der bevölkerungsbasierten, geschlechtsbalancierten, multiethnischen Kohorte der Studie die Berechnung und Unterscheidung des neuen ASCVD-Risikoscore und einiger alternativer Risikokalkulatoren geprüft [1].
Sie verglichen die tatsächlich beobachteten und die erwarteten Ereignisse bei Anwendung des ASCVD-Scores mit 3 Framingham-basierten Scores und dem Reynolds-Risikoscore bei 4.227 Teilnehmern von MESA. Die Teilnehmer waren zwischen 50 und 74 Jahre alt und wurden über einen Zeitraum von 10 Jahren beobachtet.
Bei Nutzung dieser Realworld-Population fanden sie heraus, dass 4 der 5 Risikoscores das Risiko eindeutig überschätzen. Die Berechnungen waren für Männer besonders schlecht: Sie überschätzten das Risiko um 37% bis 154%. Bei den Frauen überschätzten 3 von 4 Scores das Risiko um 46 bis 67%, und der Reynolds-Risikoscore unterschätzte das Risiko um 21%.
Um das Ausmaß dieser Fehleinschätzung deutlich zu machen, lohnt es sich, die Ergebnisse nochmals anders auszudrücken: Wenn der ACC/AHA ASCVD-Score eine Ereignisrate von 7,5% bis 10% voraussagte — ein Bereich, in dem man klar vom Nutzen einer Statin-Prävention ausgeht — lag die tatsächliche Ereignisrate gerade mal bei 3%.
Telefonisch (wir leben zufällig in der gleichen Stadt) erklärte mir Studienleiter DeFillippis, wie bedeutsam vor allem die Kohorte der unbehandelten Patienten ist. In einer Sensitivitätsanalyse schlossen er und seine Kollegen alle Patienten aus, die ASS oder einen Lipidsenker oder ein Antihypertensivum erhielten. Sie werteten diese medikamentenfreie Gruppe von 790 Patienten separat aus, um die Möglichkeiten eines Bias zu minimieren, und fanden die gleiche Überschätzung des Risikos.
Die Schlussfolgerung der Autoren lautet: Wenn sich diese Ergebnisse bestätigen lassen, hat die Überschätzung des atherosklerotischen kardiovaskulären Risikos ganz erhebliche Konsequenzen– und zwar sowohl für den einzelnen Patienten als auch für das Gesundheitssystem.
Kommentare: Schwächen der Studie …
In unserem Gespräch hat DeFillippis auch die Stärken und Limitationen der Studie erläutert. Eine der Stärken: Die MESA Kohorte repräsentiert Amerika. Die multiethnische Patientengruppe aus 6 Städten entspreche den Patienten, die die meisten Ärzte in den USA täglich zu Gesicht bekämen. „Amerika ist ein ethnischer Schmelztiegel“, sagte DeFillippis.
MESA ist auch eine moderne Kohortenstudie. DeFillippis wies darauf hin, dass die Risikoscores, die er und sein Team untersucht haben, und die heutzutage empfohlen werden, auf Daten basieren, die in einer anderen Ära der Medizin generiert und validiert worden sind. Insofern sei die Überschätzung des Risikos nicht überraschend.
Eine interessante Bemerkung, die DeFillippis in diesem Zusammenhang mir gegenüber machte, betrifft den Reynolds-Risiko-Score, der in der Studie am besten abgeschnitten hat. Er wies darauf hin, dass der Reynolds-Score sowohl genetische Faktoren (die Familienanamnese) als auch Entzündungsparameter (das CRP) nutzt, um künftige Ereignisse vorherzusagen. Ein Punkt, den man sich merken sollte: Inflammation und Genetik – das scheint es zu sein.
Allerdings betrachtet DeFillippis seine Untersuchung auch ausgewogen und mit Zurückhaltung — so wies er darauf hin, dass eine mögliche Erklärung für die Überschätzung natürlich auch sein könne, dass nicht alle Ereignisse, die passiert sind, erfasst worden seien. Zwar hätten er und sein Team sich so gut es ging bemüht, alle kardialen Ereignisse zu erfassen, trotzdem lasse sich nicht ausschließen, dass ihnen einige entgangen seien. Er schwächte die Aussage seiner Studie auch ab, indem er sagte, die Ergebnisse müssten durch weitere Untersuchungen an modernen Kohorten bestätigt werden.
… aber auch weitreichende Konsequenzen
Ich selbst wäre allerdings nicht so zurückhaltend.
Diese Ergebnisse haben weitreichende Konsequenzen. Die Medikamente gibt es nicht umsonst. ASS und Statine verursachen Nebenwirkungen und Kosten. Die Patienten, die diese Medikamente nehmen, um künftigen Ereignissen vorzubeugen, setzen darauf, dass die Risiken und Kosten vom Nutzen mehr als wettgemacht werden. Diejenigen, die Präventionsempfehlungen geben und Leitlinien verantworten, exponieren Millionen von Menschen einer Therapie, bei der es gilt, den möglichen künftigen Nutzen und mögliche Schäden genau auszubalancieren.
Prof. Dr. Rory Collins von der Oxford University, Großbritannien, einer der großen Protagonisten der Statin-Therapie, hat erst kürzlich angekündigt, dass auch er die Nebenwirkungen der Statine nochmals genauer unter die Lupe nehmen und die Sicherheitsdaten auf Patientenebene nochmals prüfen will. Nach dem Bericht einer britischen Zeitung reagiert er damit auf die Ergebnisse einer Studie, übrigens initiiert vom deutschen IQWiQ, nach denen die publizierten Daten häufig kein korrektes Bild über patientenrelevante Endpunkte geben, vor allem auch über mögliche ungünstige Effekte.
Schließlich ist auch noch zu berücksichtigen, dass der Einsatz von Statinen oder anderen Medikamenten in der Prävention nicht in der Entscheidungsgewalt von Ärzten oder medizinischen Fachgesellschaften liegt. Derjenige, der das Arzneimittel schluckt, muss letztendlich entscheiden, wie er Nutzen und Risiken abwägt. Nehmen wir mal an, Statine wären frei verkäuflich – dann wäre es eindeutig, dass der Konsument schließlich die letzte Entscheidung trifft. Und dazu muss er den möglichen Nutzen gegen mögliche Schädigungen und die Kosten abwägen können, um dann die Entscheidung zu treffen, die seinen persönlichen Absichten am ehesten entspricht.
Es sind die ihm zur Verfügung stehenden Informationen, die diese Entscheidung formen. Als ihre betreuenden Ärzte ist es unsere Aufgabe, die Patienten bei dieser schwierigen Entscheidung zu unterstützen — auch wenn wir uns eingestehen müssen, dass die Grundlagen dafür, Menschen ohne jede Symptome zu behandeln, alles andere als eindeutig sind.
Anmerkung: Der Autor dieses Artikels ist Clinical Electrophysiologist, Baptist Medical Associates, Louisville, Kentucky, und Blogger bei Medscape.com
Dieser Artikel wurde von Sonja Böhm aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
REFERENZEN:
1. DeFilippis AP, et al: Ann Intern Med. 2015;162(4):266-275
Diesen Artikel so zitieren: Angestaubt und ungenau – kardiovaskuläre Risikoscores überschätzen oft das Risiko - Medscape - 2. Mär 2015.
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