Die Mindestmengenvorgaben für Kniegelenk-Totalendoprothesen (TEP) haben schon mehrere Gerichte beschäftigt. Nun hat das Bundessozialgericht endgültige Fakten geschaffen, aus denen der Gemeinsame Bundesausschuss die Konsequenzen gezogen hat: Seit 1. Januar 2015 müssen Krankenhäuser wieder mindestens 50 Operationen im Jahr nachweisen, um die OP durchführen zu dürfen [1].

Dr. Bernd Metzinger
Das beendet indes nicht die Diskussion darüber, wie sinnvoll oder sinnlos Mindestmengenvorgaben (MMV) sind. „Wir werden in nächster Zeit Gespräche im Gemeinsamen Bundesausschuss darüber führen, wie wir die Mindestmengenvorgaben intelligenter gestalten können“, berichtet Dr. Bernd Metzinger, Geschäftsführer des Dezernats Personalwesen und Krankenhausorganisation der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG).
Eine lange Geschichte
Im Jahr 2006 hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) erstmals beschlossen, von Krankenhäusern eine Mindestmenge an Knie-TEP-Operationen zu fordern, um Qualitätsstandards zu garantieren. Dazu zählt, die Infektionsgefahr so gering wie möglich zu halten und eine weitgehende Beweglichkeit nach der OP zu erzielen. Allerdings hatte 5 Jahre später das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg einer Klinik in Brandenburg Recht gegeben, die sich gegen die Mindestmengenvorgabe (MMV) mit dem Argument gewehrt hatte, dass diese Qualitätskriterien nichts mit der Anzahl der durchgeführten OPs zu tun haben (Aktenzeichen: L7 KA 77/08KL).
Der Kläger verwies auf Statistiken, die zeigten, dass die postoperative Beweglichkeit ein ungeeignetes Kriterium für die Beurteilung der Qualität einer Knie-Operation ist. Die Richter gaben ihm nicht nur in diesem Punkt Recht [2]. Sie waren ebenso wie der Kläger der Meinung, dass auch die Reduktion der Zahl an Wundinfektionen durch die Mindestmengenvorgaben so gering sei, „dass von keinem besonderen Zusammenhang zwischen Leistungsmenge und Qualität die Rede sein kann."

Prof. Dr. Karl-Dieter Heller
Der Argumentation der Richter, dass die Mindestmengenvorgabe keinen Einfluss auf die gewählten Qualitätskriterien hat, stimmt auch Prof. Dr. Karl-Dieter Heller, Chefarzt der Orthopädischen Klinik des Herzogin Elisabeth Hospitals in Braunschweig, zu und gibt zu bedenken: „Wie und von wem wird eigentlich die Beweglichkeit bestimmt? Und wer kontrolliert diese Angaben? Die Beweglichkeit wird bei der Entlassung erfasst, doch die stationäre Verweildauer wird immer kürzer beziehungsweise variiert sehr stark. Sie wird außerdem nicht nur durch die Operation, sondern im Wesentlichen durch die Nachsorge in Reha und Physiotherapie bestimmt.“
Für genauso ungeeignet als Qualitätskriterium hält er die Zahl der Wundinfektionen. „Infektionen haben eine geringe Aussagekraft, sie sind gerade beim Knie multifaktoriell.“ Außerdem sei der Begriff unklar definiert und werde stark unterschiedlich ausgelegt. Für Heller ist eher entscheidend, wer den Eingriff macht: ein geübter Orthopäde oder Unfallchirurg, oder ein Chirurg, der zwischen Magen- und Darmeingriffen auch mal eine Knie-TEP setze.
Nachbesserungen sind notwendig
Sinnvoll oder nicht: Das Bundessozialgericht hat das Urteil des Landesgerichts im Oktober 2014 außer Kraft gesetzt und der G-BA die ausgesetzte Mindestmenge darauf hin wieder eingesetzt, so dass Krankenhäuser nun 50 TEP-Operationen für 2014 nachweisen müssen, um auch in diesem Jahr operieren zu können, ohne zu riskieren, dass ihre Arbeit nicht vergütet wird.
An dem Urteil des BSG möchte die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) nicht rütteln. „Das Bundessozialgericht hat Recht gesprochen und die DKG muss sich der Rechtsprechung unterordnen. Zudem sind die Mindestmengen auch von der Politik gewollt“, stellt Metzinger klar.
Aber ganz ohne Nachbesserungen möchte er die Verordnung doch nicht hinnehmen – nicht bezüglich der Knie-TEPs und auch nicht allgemein. „Große Mengen allein sind noch kein Qualitätsgarant. Das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss.“ Und gerade bei den künstlichen Kniegelenken bezweifelt er, dass alle Eingriffe für die MMV erfasst werden: „Schlittenprothesen zum Beispiel, die nur auf einer Seite des Knies eingesetzt werden, zählen bei der Mindestmenge nicht mit. Wir halten es nicht für sinnvoll, dass ein mit Kniegelenks-Endoprothesen erfahrener Operateur keine TEP einsetzen darf, weil er bei geeigneten Patienten die weniger eingreifende Schlittenprothese implantiert und deshalb die notwendige Mindestmenge der TEP nicht erreicht. Diese Regelung ist ein klassischer Fehlanreiz, die eingreifendere Operation durchzuführen.“
Starre Mindestmengen sind keine Lösung
Dass Erfahrungen bei bestimmten, komplizierten Operationen notwendig sind, bestreitet im Grunde niemand. Aber ab wann eigentlich spricht man von Gelegenheitsversorgung? Über die Zahl 50 für Knie-TEP jedenfalls lässt sich streiten. „Alle zwei Monate eine solche OP wollen auch wir nicht als Standard. Das ist Gelegenheitsversorgung. Aber was spricht eigentlich für die gegriffen festgelegte Zahl 50, außer dass das etwa einer Prothese pro Woche entspricht?“, so Metzinger.
Große Mengen allein sind noch kein Qualitätsgarant. Das ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss.
Mit starren Vorgaben für Mindestmengen, wie sie derzeit üblich sind, komme man jedenfalls nicht weit, ist sich der Mediziner sicher. „Wir brauchen dynamischere Modelle, Mindestmengen müssen offener und flexibler werden. Wir brauchen auch unterschiedliche Varianten, abhängig von der jeweiligen Operation.“
Heller etwa hält es für unangemessen, Mindestmengen an TEP-Operationen für eine komplette Klinik festzulegen. „Wenn ein Krankenhaus 50 Knie-TEPs im Jahr nachweisen muss, dann gilt diese Vorgabe für das ganze Haus. Das bedeutet, die MMV gilt unabhängig davon, ob ein Operateur 50 Prothesen oder zehn Operateure fünf Prothesen einsetzen. Das kann es doch nicht sein.“
Für differenzierter und besser kontrolliert hält Heller externe Qualitätszertifikate wie zum Beispiel EndoCert. Die Zertifizierungsinitiative der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) für Endoprothesen beurteilt die Strukturen und Prozesse des Krankenhauses sowie die Erfahrungen des Personals.
Metzinger dagegen hält eine Konzentration auf Einzelne und die „Zertifizitis“ für falsch. „Eine Knie-TEP-Operation ist eine Teamleistung, zu der genauso zwei bis drei Assistenten, Schwestern und andere gehören. Personenbezogene Mindestmengen lehnt die DKG ab“, so Metzinger.
Patienten könnten sich jedenfalls anhand der MMV orientieren und erfahren, für welche Kliniken Knieoperationen zumindest nicht die Ausnahme sind. „Bei uns kommen 40 Prozent der Kniepatienten aus Braunschweig“, konkretisiert Heller. „Der Rest kommt aus der ganzen BRD, weil sie wissen, dass sie hier auf erfahrene Ärzte treffen.“ Dennoch sei es durchaus sinnvoll, den operierenden Arzt direkt zu fragen, wie häufig er die entsprechende OP durchführt, rät der Braunschweiger Orthopäde.
Sind MMV ein stumpfes Schwert?
Ob die Angaben der Krankenhäuser bezüglich ihrer Operationszahlen überhaupt stimmen, stellt eine Studie der Universität Witten/Herdecke in Frage [3]. Die Wissenschaftler zeigten, dass manche Krankenhäuser immer haarscharf an der geforderten Mindestmenge für bestimmte Operationen lagen. Gingen die Forderungen nach oben, zogen sie mit. Sanken sie, fiel nicht selten auch die Zahl der gemeldeten OPs.
„Das ist merkwürdig“, findet Heller. „Es ist zu befürchten, dass ein Krankenhaus, das 49 Knieprothesen eingesetzt hat, am Ende des Jahres die Indikation für die 50. TEP lockerer handhabt oder statt einer Teil- doch eine Vollprothese einbaut, weil es sonst die Berechtigung für Knie-TEP verlieren und kein Geld von der Krankenkasse mehr bekommen würde.“ Die Kostenträger sind nicht verpflichtet, Knie-TEP zu vergüten, wenn die MMV nicht eingehalten wurde. Und das kann sich schmerzhaft im Budget bemerkbar machen.
Dass nicht immer alle Krankenkassen alle Mindestmengenvorgaben kontrollieren, ist so manchem schon zu Ohren gekommen. Doch auch die Kostenträger sind gefragt, wenn es darum geht, die MMV nicht zum stumpfen Schwert werden zu lassen. So wäre zum Beispiel auch eine detaillierte Ergebnisevaluation wünschenswert. „Erst dann werden wir wissen, ob und was die MMV bringen. Ändert sich etwas an der Qualität der Operationen, oder ist das Ganze nur ein Vorwand der Krankenkassen, um Krankenhäuser zu schließen?“, fragt sich Metzinger. „Anhand der Evaluationsergebnisse kann man dann die Mindestmengenvorgaben besser regeln, sie hier herauf oder dort herunter setzen. Das sind dann Dinge, mit denen wir arbeiten können.“
Der G-BA jedenfalls verschließt sich der Diskussion um Mindestmengen nicht, glaubt der Public-Health-Spezialist. „Seit mehr als einem Jahr redet man darüber, wie intelligentere MMV zu gestalten sind. Aber die eigentliche Diskussion hat jetzt erst nach dem Urteil des Bundessozialgerichts begonnen.“ Die DKG rechnet im Herbst im Rahmen der Krankenhausreform mit einem Vorschlag des G-BA zur Nachbesserung der MMV.
REFERENZEN:
1. Pressemitteilung des Gemeinsamen Bundesausschusses, 15.10.2014
2. Entscheidungen der Gerichte in Berlin und Brandenburg
3. de Cruppé W, et al: Deutsches Ärzteblatt 2014;111(33/34):549-555
Diesen Artikel so zitieren: Knie-TEP-Mindestmengen: Ausdruck von „Zertifizitis“ oder vorteilhaft für Patienten? - Medscape - 27. Feb 2015.
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