Die Freiheit der Andersdenkenden – brauchen wir eine Impfpflicht für Masern?

Bettina Micka

Interessenkonflikte

24. Februar 2015

Das war wohl nichts: Bereits mehr als 400 Masern-Fälle seit Anfang des Jahres, die meisten davon in Berlin, zeigen nur allzu deutlich, dass Deutschland seiner Verpflichtung gegenüber der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Masern bis 2015 zu eliminieren, nicht nachgekommen ist. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren größere Ausbrüche, zuletzt 2013 mit rund 1.800 Erkrankungen. Dies zeigt, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen, um die kritische Menge von 95% an Geschützten (durch Impfung oder durchgemachte Erkrankung) in der Bevölkerung zu erreichen, damit sich das Virus nicht mehr ausbreiten kann.

Hilft nun nur noch eine Impfpflicht, wie sie von den Regierungsparteien ins Gespräch gebracht worden ist [1]? Hieran scheiden sich die Geister, nicht nur in der Regierung. Für eine Impfpflicht hat sich unter anderem auch die Bundesärztekammer ausgesprochen.

Es geht um 2 Fragen. Zum einen die ethische: Steht das gesellschaftliche Interesse, diejenigen zu schützen, die durch eine Impfung nicht geschützt werden können, über der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen? Darf der Staat also ein gesundheitliches Risiko sozialisieren? Soll andererseits ein Impfverweigerer andere einer potenziellen Ansteckungsgefahr aussetzen können, falls er erkrankt? Zum zweiten geht es um die ganz praktische Frage, ob eine Impfpflicht tatsächlich zum Ziel führt.

 
Wenn Menschen in Gemeinschafts-einrichtungen wie Kitas oder Schulen zusammenkommen, gehören sie geimpft. Prof. Dr. Ronald G. Schmid
 

Das Infektionsschutzgesetz lässt unter bestimmten Bedingungen bereits eine Impfpflicht zu. Masern erfüllen diese Bedingungen allerdings nicht.

Impfpflicht in Gemeinschaftseinrichtungen

„Wenn Menschen in Gemeinschaftseinrichtungen wie Kitas oder Schulen zusammenkommen, gehören sie geimpft“, sagt Prof. Dr. Ronald G. Schmid gegenüber Medscape Deutschland. Zudem sollten Ungeimpfte, die bereits diese Einrichtungen besuchen, nachgeimpft werden, meint der Vizepräsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. 

Da es in Deutschland eine Schulpflicht gibt, kommt dies indirekt einer Impfpflicht gleich. Nicht nur Schmid vertritt diese Ansicht, sondern der gesamte Berufsverband ist sich in dieser Frage einig. Diese „indirekte“ Impfpflicht solle für alle vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) empfohlenen Impfungen gelten.

Als langjähriger Leiter der Kinderstation im Zentrum für Kinder und Jugendliche in Altötting hat Schmid ein besonderes Bewusstsein für das Schutzbedürfnis von Kindern, die auf diese Herdenimmunität angewiesen sind, da sie nicht selbst durch eine Impfung geschützt werden können, wie etwa Tumorkranke oder Rheumatiker. Doch er räumt ein: „Jede Zwangsmaßnahme hat auch ihre negativen Auswirkungen.“

Dass es mit der Impfung der Kleinkinder nicht getan ist, weiß Schmid. Als Beispiel nennt er die Keuchhustenimpfung. Gerade ältere Erwachsenen sind nicht geimpft und so werden Großeltern nicht selten zur Ansteckungsquelle für noch nicht geimpfte Kleinkinder.

Impfpflicht für Kleinkinder löst das Problem nicht

„In der STIKO gibt es zwar keine abgestimmte Meinung zur Impfpflicht, aber die kritische Haltung scheint mir zu überwiegen“, sagt Dr. Jan Leidel im Gespräch mit Medscape Deutschland.

 
Die Impfraten bei kleinen Kindern nehmen in den letzten Jahren sogar zu. Dr. Jan Leidel
 

Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (STIKO) ist skeptisch, ob mit einer Impfpflicht für Kinder das gesteckte Ziel überhaupt zu erreichen ist, denn gerade bei den Kindern ist die Durchimpfungsrate hoch. Bei der Erhebung der Impfquoten bei der Schuleingangsuntersuchung 2012 waren 96,4% der Kinder mindestens einmal gegen Masern geimpft. Die 2. Impfung hatten noch 92,4% der Kinder erhalten. „Die Impfraten bei kleinen Kindern nehmen in den letzten Jahren sogar zu“, betont Leidel.

Impflücken tun sich dagegen vor allem bei den Erwachsenen auf. Wie die 2013 veröffentlichte Studie des RKI zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) zeigt, haben nur 38,1% der 18- bis 64-Jährigen nachweislich mindestens eine Masernimpfung erhalten. Die STIKO empfiehlt für alle nach 1970 geborenen Personen ab 18 Jahren, die nicht nachweislich beide Impfungen erhalten haben, eine einmalige Impfung. Ältere Erwachsene hatten oft schon als Kinder Kontakt mit dem Virus und sind dadurch immun.

 
Mit welchen Sanktionen impfpflichtige Schulkinder bei Verweigerung belegt werden könnten, ist mir schleierhaft. Dr. Jan Leidel
 

Eine Impfpflicht sieht Leidel auch deshalb kritisch, weil die Umsetzung schwierig wäre: „Mit welchen Sanktionen impfpflichtige Schulkinder bei Verweigerung belegt werden könnten, ist mir schleierhaft.“ Schließlich gebe es in Deutschland auch eine Schulpflicht. Zudem müsse es immer Ausnahmeregeln für Kinder geben, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden könnten. Diejenigen Kinderärzte, die selbst von Impfungen abraten, wären dann sicher großzügig mit der Darlegung von Kontraindikationen, vermutet Leidel. Zudem befürchtet er, dass unentschlossene Eltern durch eine Impfpflicht eher abgeschreckt werden.

Können Eltern fundiert entscheiden?

Obwohl Leidel sich aus praktischen Gründen gegen eine Impfpflicht ausspricht, sieht er es durchaus kritisch, dass die alleinige Entscheidung bei den Eltern liegt. Für die Sichtung des Datenmaterials zu einer Impfung als Grundlage für eine Bewertung brauche ein Wissenschaftler rund ein halbes Jahr. „Allein vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob man Eltern in ihrer Entscheidungsfähigkeit nicht überschätzt“, gibt Leidel zu bedenken.

Zudem verweist er darauf, dass UNICEF auf das Recht eines jeden Kindes auf Impfung poche. Ein Recht, dass manchem Kind in Deutschland also von seinen Eltern verweigert werde.

Auch geht es bei der Entscheidung nicht nur um das eigene Kind, sondern eben auch um die (noch) ungeschützten Kinder, die es anstecken könnte. „Die Masernimpfung ist kein Privatvergnügen“, betont Leidel.

 
Die Masernimpfung ist kein Privatvergnügen. Dr. Jan Leidel
 

Bürokratische Hürden abbauen

Statt einer Impfpflicht sieht Leidel andere Maßnahmen als wirkungsvoller an. „Großbritannien und Österreich machen es uns vor: Durch schulbasierte Impfprogramme werden dort sehr effektiv Impflücken bei älteren Kindern geschlossen“, erläutert er.

Bereits 2009 hätten sich die Länder geeinigt, einen nationalen Impfplan zu entwickeln. „Dieser Plan existiert de facto immer noch nicht“, so Leidel. Immerhin soll künftig ein zentrales Büro die Vorgehensweise auf Länderebene koordinieren.

In Deutschland stehen nicht selten auch bürokratische Hürden einer Lösung des Problems entgegen. Beispielsweise kann ein berliner Gynäkologe zwar seine Patientin impfen, nicht jedoch den Partner, der sie zu diesem Besuch begleitet, da ihm ansonsten Regress droht.

 
Bereits jetzt beraten die allermeisten Kinderärzte. Prof. Dr. Ronald G. Schmid
 

Beratungspflicht als flankierende Maßnahme

Eine Pflicht zur Impfberatung, wie sie im Präventionsgesetz verankert werden soll, begrüßen sowohl Leidel als auch Schmid. „Ich begrüße sehr den Vorstoß von Hermann Gröhe, eine Impfberatung gesetzlich zu verankern“, so Leidel. „Bereits jetzt beraten die allermeisten Kinderärzte“, sagt Kinderarzt Schmid, doch als Teil der Gesetzgebung sei die Maßnahme noch wirkungsvoller. Er sieht eine Beratungspflicht im Präventionsgesetz daher als „gut untergebracht“ an.

Die STIKO empfiehlt, dass jeder Arztbesuch dazu genutzt werden soll, den Impfstatus zu überprüfen. In der Praxis ist dies mitunter schwierig, insbesondere wenn die Wartezimmer in der Erkältungssaison voll sind. Schmid appelliert jedoch an alle Ärzte, sich bewusst ein Zeitfenster für die Prüfung des Impfschutzes ihrer Patienten zu setzen. In ruhigen Zeiten, etwa im Sommer, sollte dann konsequent der Impfschutz jedes Patienten geprüft werden, der in die Praxis kommt.

Gemeldete Masernfälle nach Referenzdefinition in Deutschland, Stand: 25.02.2015; Quelle: SURVSTAT@RKI 2.0

 

REFERENZEN:

1. Bundesgesundheitsministerium, Statement des Bundesgesundheitsministers Hermann Gröhe zum aktuellen Masernausbruch und zum Impfschutz, 23. Februar 2015

 

Kommentar

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