Debatte zur Hirntoddiagnostik: „Weit weniger sicher, als immer behauptet wird“

Christan Beneker

Interessenkonflikte

24. Februar 2015

Prof. Dr. Gundolf Gubernatis

In einem Krankenhaus in Bremerhaven wurde der Hirntod einer Organspenderin möglicherweise nicht vollkommen korrekt festgestellt. Darauf wurde die bereits begonnene Organentnahme abgebrochen. Das berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ [1]. Prof. Dr. Gundolf Gubernatis, Transplantationsmedziner aus Wilhelmshaven, nimmt den Vorfall zum Anlass, erneut über die seiner Ansicht nach mangelhafte Hirntoddiagnostik in Deutschland zu sprechen.

Medscape Deutschland: Sie sind Transplantationsmediziner, und Sie haben auf Ihrem Organspendeausweis seit einiger Zeit ein „Nein“ angekreuzt. Warum?

Prof. Dr. Gubernatis: Eines vorweg: Die Organspende ist ein gute und immens wichtige Sache. Aber sie ist mir im Moment zu unsicher.

 
Die Hirntoddiagnostik ist theoretisch sicher, aber leider in der Praxis weit weniger sicher als immer behauptet wird.
 

Medscape Deutschland: Warum?

Prof. Dr. Gubernatis: Nun, man kann sich den Arzt bei seiner eigenen Hirntod-Diagnostik ja nicht mehr aussuchen und ist damit auf das vorgeschriebene Mindestniveau an Wissen und Erfahrung der Ärzte angewiesen. Und das ist mir zu gering. Nach den Richtlinien der Bundesärztekammer muss der hirntodfeststellende Arzt weder Facharzt sein, noch muss er die Untersuchung je gesehen haben noch je unter Anleitung gemacht haben, und er muss nicht einmal die Regeln der Bundesärztekammer nachweislich zur Kenntnis genommen zu haben. Und das ist mir zu wenig.

Medscape Deutschland: Was muss er denn derzeit können?

Prof. Dr. Gubernatis: Er muss mehrjährige Erfahrung mit Intensivpatienten haben. Das bedeutet aber noch nicht, dass er weiß, wie die Hirntoddiagnostik funktioniert oder dass er zum Beispiel den Apnoe-Test beherrscht, bei dem die Beatmung abgestellt wird, um zu prüfen, ob der Patient noch selbständig atmen kann – einer der entscheidenden Teste.

Mit einer Gruppe von Ärzten haben wir der Bundesärztekammer einen offenen Brief mit konstruktiven Vorschlägen und Forderungen geschickt: Facharztstatus mit spezieller Intensivmedizin und zusätzlich curriculäre Ausbildung und geprüfte Qualifikation mit der Zusatz-Bezeichnung „Hirntoddiagnostik“ als Mindeststandard für die Ärzte, die den Hirntod vor Organentnahmen feststellen dürfen. Und wir fordern, die Regeln zu verschärfen. So muss zum Beispiel unseres Erachtens immer geprüft werden, ob im Blut des potentiellen Spenders noch Substanzen vorhanden sind, die den Hirntod auch vortäuschen können. Ebenfalls sollte grundsätzlich eine apparative Zusatzdiagnostik vorgeschrieben sein.

Medscape Deutschland: Das heißt, man muss an einer funktionierenden Hirntoddiagnostik in Deutschland zweifeln?

Prof. Dr. Gubernatis: Die Hirntoddiagnostik ist theoretisch sicher, aber leider in der Praxis weit weniger sicher als immer behauptet wird. Nur wenn die Ärzte über Erfahrung und Know-How verfügen und sich mit den Fallstricken der Hirntoddiagnostik auskennen, wäre sie sicher.
Im Übrigen muss man auch sehen, dass der Hirntod nicht für alle Menschen den Tod in weltanschaulicher oder religiöser Hinsicht darstellt. Den Moment des Todes kann man nicht medizinisch beweisen. Es wäre töricht, das anzunehmen. Jeder Mensch muss selber entscheiden, ob er den Hirntod als Tod anerkennt. Aber wenn, dann muss die Diagnose absolut sicher und verlässlich gestellt werden. Dann sind meins Erachtens auch Fehlerquoten im Prozentbereich inakzeptabel!

Medscape Deutschland: Stichwort Bremerhaven: Dort lag der PCO2-Wert einer Patientin bei 58 und nicht wie vorgeschrieben bei 60. Der Hirntod wurde festgestellt, die OP begonnen. Man hätte also den Hirntod hier gar nicht feststellen dürfen?

 
Ich fühle mich hier durch die Bundesärztekammer getäuscht. Seit Wochen prüft nun die Kammer den Fall. Warum so lange?
 

Prof. Dr. Gubernatis: Richtig, jedenfalls nach den mir jetzt bekannten Umständen. Sogar die BÄK hat gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“, die über den Fall berichtete, eingeräumt, dass der Apnoe-Test nicht den Richtlinien entsprochen hat. Trotzdem hatte die Bundesärztekammer zunächst behauptet, die Patientin sei sicher hirntot gewesen, es habe nur Unsicherheiten in der Dokumentation gegeben. Ich fühle mich hier durch die Bundesärztekammer getäuscht. Seit Wochen prüft nun die Kammer den Fall. Warum so lange? Um eine Schwäche in der Dokumentation aufzudecken? Ich habe den Eindruck, die Kammer will nicht aufklären, sondern die Öffentlichkeit in Sicherheit wiegen und die Ursachen verschleiern.

Medscape Deutschland: Politik, die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) und die Bundesärztekammer wollen auch kleine Krankenhäuser mit einbeziehen, um möglichst viele Organspenden vermitteln zu können. Was halten Sie von dieser Politik?

Prof. Dr. Gubernatis: Sie ist extrem wichtig. Das war auch einer der Schwerpunkte, als ich noch für die DSO im Norden tätig war, und wir haben innerhalb von nur 2 Jahren die Spender aus diesen Häusern fast verdoppeln können. Aber diese Häuser brauchen maximale Unterstützung, auch und gerade in der Hirntoddiagnostik. Zum Beispiel durch ein Ärzteteam, das ans Haus kommt und die Hirntoddiagnostik macht. Auch in Bremerhaven wäre dies vermutlich hilfreich gewesen, obwohl es ein sehr großes Haus ist.

Ich finde auch, dass die Bundesärztekammer die Kollegen, die ohne große Erfahrungsmöglichkeiten trotzdem bereit sind, Hirntoddiagnostik für Organspende zu machen, im Regen stehen lässt. Sie müssen mehr oder weniger allein und auf sich gestellt das notwendige Wissen und Expertise zusammenbekommen und überlegen, wie die Richtlinien korrekt zu interpretieren sind, und am Schluss kommt unter Umständen der Staatsanwalt.

 
Ich wünsche mir seit langem ein unabhängiges Kompetenzzentrum, in dem Experten sind, die von den Kliniken bei Bedarf gerufen werden können.
 

Jetzt, wo die Organspenden drohen einzubrechen, sollte man ganz auf externe Expertenteams setzen, die in Regionen rund um die Uhr in die Krankenhäuser fahren oder sogar fliegen können, um dort die Hirntoddiagnostik durchzuführen. Und alle, denen das vielleicht zu teuer erscheint, erinnere ich daran, was es gekostet hat, allen Krankenversicherten einen Organspendeausweis zuzuschicken: Mehr als 30 Millionen Euro! Dafür kann ein Ärzteteam schon eine Menge fliegen. Und das wäre eine große vertrauensbildende Maßnahme.

Medscape Deutschland: Sie fordern unabhängige Teams – warum?

Prof. Dr. Gubernatis: Der Gesetzgeber hat aus guten Gründen die Bereiche Organspende, Organverteilung und Transplantation organisatorisch voneinander getrennt. Die Hirntoddiagnostik ist ein weiterer eigenständiger Bereich. Selbst der neue Vorstand der DSO sieht das inzwischen so. Ich wünsche mir seit langem ein unabhängiges Kompetenzzentrum, in dem Experten sind, die von den Kliniken bei Bedarf gerufen werden können. Dieser Vorschlag wird inzwischen auch von anderen gemacht.

Medscape Deutschland: Wo sollte das Team organisatorisch angesiedelt sein?

Prof. Dr. Gubernatis: Bis vor wenigen Jahren hätte ich mir die Bundesärztekammer vorstellen können, aber nach den Ereignissen vor allem im letzten Jahr und jetzt im Januar habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Kammer nicht wirklich an den Organspenden und deren Steigerung interessiert ist – jedenfalls gibt es hierfür viele konkrete Anhaltspunkte. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass die Politik erkennt, dass man Hirntoddiagnostik und Organspende nicht privaten Organisationen überlassen darf, auch nicht der Bundesärztekammer! Ich könnten mir vorstellen, dass man diese Bereiche in staatliche Hände legt und eigene Institute gründet oder an bestehende Institute ansiedelt, so wie es jetzt auch häufiger vorgeschlagen wird: Die Organspende gehört in die ureigendste Verantwortung des Staates.

 

REFERENZEN:

1. Artikel der “Süddeutschen Zeitung", “Experten beklagen Täuschung der Öffentlichkeit"

 

Kommentar

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