Sollen Neugeborene Organspender sein? Ein Fall aus Großbritannien wirft ethische Fragen auf

Andrea Wille

Interessenkonflikte

23. Januar 2015

In Großbritannien könnte die Entnahme von Spenderorganen bei Säuglingen künftig deutlich erleichtert werden. Die Neonatologen Dr. Gaurav Atreja und Dr. Sunit Godambe vom Hammersmith Krankenhaus in London berichten in den Archives of Disease in Childhood (Fetal and Neonatal Edition) von der ersten erfolgreichen Organspende eines Neugeborenen nach Herz-Kreislauf-Stillstand in Großbritannien [1]. Die einen sehen darin einen „Meilenstein“ und „signifikantes Potential“, andere halten die Organspende von Säuglingen für bedenklich und warnen vor einer Organentnahme nach Herztod.

 
In Großbritannien ist die Organtransplantation sehr gut organisiert. Durch diesen Fall wird die Akzeptanz in Großbritannien vermutlich noch größer. Prof. Dr. Silvio Nadalin
 

„In Großbritannien ist die Organtransplantation sehr gut organisiert. Die Bereitschaft zur Organspende ist generell größer als in Deutschland. Durch diesen Fall wird die Akzeptanz in Großbritannien vermutlich noch größer. In Deutschland ist die Akzeptanz eher zentrumsabhängig“, kommentiert Prof. Dr. Silvio Nadalin den Fall. Er ist Leiter des Transplantationszentrums und der HBP-Chirurgie sowie stellvertretender Leiter der Universitätsklinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie in Tübingen.

Hirntodkriterien bald auch in Großbritannien für Säuglinge?

Bislang gibt es in Großbritannien keine festgelegten Kriterien, die es erlauben, bei Neugeborenen in einem Alter zwischen der 37. Schwangerschaftswoche (SSW) und 2 Monaten den Hirntod zu bestimmen. Es wird erwartet, dass die neuen Richtlinien des Royal College of Paediatrics and Child Health, deren Veröffentlichung innerhalb der nächsten Monate ansteht, diese Lücke schließen werden. Die Organspende nach Herz-Kreislauf-Stillstand ist jedoch – anders als in Deutschland – in Großbritannien erlaubt – dies auch bei Säuglingen im Alter unter 2 Monaten. Es geschah jedoch nun zum ersten Mal bei einem so jungen, nur wenige Tage alten Säugling.

Prof. Dr. Norbert Paul

„Die Organentnahme nach Herztod ist problematisch. Denn der Herztod ist kein sicheres Todeskriterium“, erläutert Prof. Dr. Norbert Paul, Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. So sei bekannt, dass der Herztod reversibel sein könne und sich das Herz auch nach längerem Herzstillstand erholen kann und dies gelte insbesondere für Neugeborene, bei denen beispielsweise nach problematischer Entbindung kardiale Probleme und eine Reanimation keine Seltenheit seien.

„Hinzu kommt, dass bei einem Neugeborenen nur wenige Tage nach der Geburt beispielsweise virale Erkrankungen, die sich erst nach größerem zeitlichem Abstand zeigen, nicht ausgeschlossen werden können. Damit wäre dann die Frage verbunden, wie sicher eine Organspende eines Säuglings sein kann“, so Paul.
Das reife weibliche Neugeborene wog bei seiner Geburt 3,1 kg und zeigte deutliche Hirnschäden infolge eines Sauerstoffmangels in der Schwangerschaft. Die Mutter wurde mittels einer Notfall-Sectio entbunden, da das Kind intrauterin eine pathologische Herzschlagfrequenz aufwies. Eine 72-stündige therapeutische Hypothermie besserte den neurologischen Status nicht. Der Säugling zeigte keine spontanen Bewegungen, reagierte nicht auf Reize und zudem waren die Pupillen starr und erweitert, so die britischen Autoren.

 
Die Organentnahme nach Herztod ist problematisch. Denn der Herztod ist kein sicheres Todeskriterium. Prof. Dr. Norbert Paul
 

Der Fall wirft viele Fragen auf

Als deutlich wurde, dass für den Säugling keine Überlebenschance bestand, wurde die Möglichkeit einer Organspende der Nieren und von Hepatozyten des Säuglings mit den Eltern besprochen. Am sechsten Tag nach der Geburt wurden diese Organe nach Herz-Kreislauf-Stillstand des Säuglings dann entnommen und 2 Empfängern transplantiert. Aus Gründen der ärztlichen Verschwiegenheit gibt es keinerlei Informationen über die Empfänger. 

Doch auch außerhalb des Bereichs der ärztlichen Verschwiegenheit bleibt einiges unklar, wie der Medizinethiker aus Mainz anmerkt. Denn der Bericht ist nicht als wissenschaftlicher Artikel, sondern nur in der abgespeckten Form eines Letters publiziert: „Man würde sich dennoch wünschen, dass die klinischen Kriterien detailliierter beschrieben werden, etwa die Kriterien der Todesfeststellung und der Entnahme“, rügt Paul, „Was führte zum Herz-Kreislauf-Stillstand? Der natürlich eintretende Herztod ist normalerweise nicht die Todesursache in der Intensivmedizin.“

 
Die Organspende eines Säuglings ist auch mit Blick auf die Eltern ethisch fragwürdig. Prof. Dr. Norbert Paul
 

„Dank der extremen Großmütigkeit der Eltern und wundervollen professionellen Zusammenarbeit zwischen dem Neonatologen-Team und dem Organspende-Team war dieser Ablauf erfolgreich“, schreiben die Autoren. „Dieser Fall ist ein Meilenstein in der Neugeborenen-Versorgung in Großbritannien.“

Paul sieht dies kritischer und verweist auf seine Erfahrungen aus der Klinik: „Die Organspende eines Säuglings ist auch mit Blick auf die Eltern ethisch fragwürdig. Wir beobachten in der Klinik, dass beispielsweise Eltern von zu früh geborenen Kindern in den ersten Tagen Schwierigkeiten haben, das Kind so anzunehmen. Gleiches gilt für schwer behinderte Kinder. In dieser Phase sind die Eltern extrem vulnerabel und es dauert etwas, bis die Bindung sich aufbaut. So ist vorstellbar, dass die Eltern in den ersten Tagen nach der Geburt eher einer Überführung in die Palliativmedizin zustimmen, als ab dem Zeitpunkt, ab dem eine feste Bindung entstanden ist.“

Neugeborene als Organspender: Großes Potential oder ethisch bedenklich?

Eine im letzten Jahr im selben Journal veröffentliche Studie um Dr. Joe Brierley vom Great Ormond Street Hospital for Children in London hat auf einer neonatologischen Intensivstation einer Kinderklinik in Großbritannien geprüft, inwiefern sich Neugeborene als Organspender eignen [2]. Von 84 untersuchten gestorbenen Säuglingen im Alter zwischen der 37. SSW und 2 Monaten konnten 45 als potentielle Organspender identifiziert werden. Von diesen hatten 34 Säuglinge einen Herz-Kreislauf-Stillstand, bei 11 Säuglingen war der Hirntod festgestellt worden.

 
Die Hirntoddiagnose bei einem kindlichen Gehirn ist immer schwierig. Was Messgeräte dann anzeigen, entspricht nicht unbedingt dem Zustand des Kindes. Prof. Dr. Norbert Paul
 

Die Autoren machen jedoch auch auf das Fehlen von Langzeitdaten zur Organtransplantation bei Kindern als Spender nach Herz-Kreislauf-Stillstand aufmerksam. Je nach Organ sind zudem unterschiedliche Zeitfenster zu beachten, um einen Ischämieschaden zu verhindern. So können Nieren bis zu einem Zeitfenster von 3 Stunden nach dem Herzstillstand transplantiert werden, was auch die hier berichtete Organspende des Säuglings erleichterte.

Die Autoren verweisen zudem auf den „bizarren“ Umstand, dass Organe von Spendern unter 2 Monaten aus anderen europäischen Ländern in Kinder aus Großbritannien transplantiert werden, andersherum jedoch kein solcher Transfer stattfindet. Ihrer Studie zufolge gebe es jedoch ein „signifikantes Potential“ für die Organspende von Säuglingen. Durch eine Überarbeitung der aktuellen Richtlinien des Royal College of Paediatrics and Child Health zur Hirntoddiagnose bei Säuglingen unter 2 Monaten erhoffen sich die Autoren, dieses Potential besser nutzen zu können.

Doch Nadalin weiß: „Die Diagnostik des Hirntods ist sehr komplex.“ Das gilt vor allem für Säuglinge. Nicht zuletzt deshalb hält Paul die Organspende eines Säuglings selbst nach einem Hirntod für problematisch: „Die Hirntoddiagnose bei einem kindlichen Gehirn ist immer schwierig. Denn das kindliche Gehirn unterliegt einer Dynamik, die morphologische Verluste erstaunlich gut kompensieren kann. Was  Messgeräte wie das EEG dann anzeigen, entspricht nicht unbedingt dem Zustand des Kindes, den man beobachten kann. Insofern befinden sich Säuglinge in einer neurologisch unklaren Situation und eine Todesfeststellung und die Entnahme der Organe unter diagnostischer Unsicherheit sind ethisch bedenklich.“

 

REFERENZEN:

1. Atreja G, et al: Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed (online) 19. Januar 2015

2. Charles E, et al: Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed. 2014;99:F225–F229

 

Kommentar

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