Neurobiologische Tests auf Rückfall: Für zuverlässigere Prognosen bei Sexualstraftätern

Heike Dierbach

Interessenkonflikte

2. Januar 2015

Berlin – Bei ärztlichen Gutachten über Schuldfähigkeit von Straftätern und deren Rückfallgefahr werden bislang kaum neurobiologische Untersuchungen eingesetzt. Könnten Tests und empirische Erkenntnisse in Zukunft helfen, die Sicherheit einer Beurteilung zu erhöhen? Einige erfolgreiche Studien legen das nahe, und auch auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) wurde das Thema diskutiert [1]. Medscape Deutschland sprach mit Prof. Dr. Jürgen Müller, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen mit Schwerpunktprofessur Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, über Chancen und Risiken solcher Tests in der Forensik, übersteigerte Erwartungen der Gesellschaft und typische Blickbewegungen von Pädophilen.

Prof. Dr. Jürgen Müller

Medscape Deutschland: Der Berliner Tagesspiegel zitierte vor kurzem die Auffassung, dass der Fall Gustl Mollath möglicherweise durch eine neurologische Überprüfung hätte vermieden werden können [2]. Ist das denkbar oder Wunschdenken?

Prof. Dr. Müller: Ich kenne den Fall nicht im Detail, aber in erster Linie ging es da ja um eine juristische Bewertung verschiedener Sachverhalte. Ich denke nicht, dass empirische Verfahren oder ein Hirnscan des Betroffenen da weitergeholfen hätten. Man müsste auch konkret wissen, an welches Verfahren man da gedacht hat.

 
Neurobiologische Untersuchungen und psychologische Tests können die Täterpersönlichkeitsbeurteilung sinnvoll ergänzen, die Prognose verbessern und zu einem individuellen Risikomanagement beitragen.
 

Medscape Deutschland: Lässt sich das Risiko für kriminelles Verhalten überhaupt mit einem neurologischen Test bestimmen?

Prof. Dr. Müller: Eine Prognosebeurteilung ist ein sehr komplexer Akt. Die Vorstrafen, der Tatvorwurf, die Täterpersönlichkeit, das Intelligenzniveau – das wird alles berücksichtigt. Weiter werden etablierte Skalen und Verfahren eingesetzt, um die Prognose zu beurteilen. Neurobiologische
Untersuchungen und psychologische Tests können die Täterpersönlichkeitsbeurteilung sinnvoll ergänzen, die Prognose verbessern und zu einem individuellen Risikomanagement beitragen.

Medscape Deutschland: Wie misst man neurobiologisch die Gefährlichkeit einer Person?

Prof. Dr. Müller: Zum Beispiel, indem man untersucht, wie leicht sie sich durch bestimmte Reize ablenken lässt. Wir haben pädophilen Straftätern und Kontrollpersonen eine Rotationsaufgabe gestellt und ihnen zugleich Fotos von nackten Kindern gezeigt. Die Pädophilen richteten ihren Blick signifikant schneller auf die Fotos als die Kontrollpersonen. Der Zusammenhang zwischen abweichender sexueller Orientierung und veränderter Aufmerksamkeitsfokussierung ist empirisch recht gut gesichert. Neuere Studien haben auch sehr gute Korrelationen zwischen entsprechenden Testergebnissen und der Rückfallquote gefunden und konnten sogar die Gruppen rückfälliger Probanden und nichtrückfälliger Probanden trennen.

Medscape Deutschland: Sind solche Tests nicht sehr anfällig für Manipulationen? Der Pädophile weiß ja, dass er getestet wird – also guckt er extra nicht auf das Foto.

 
Der Zusammenhang zwischen abweichender sexueller Orientierung und veränderter Aufmerksamkeitsfokussierung ist empirisch recht gut gesichert.
 

Prof. Dr. Müller: Das ist ein grundsätzliches Problem, das bei allen Untersuchungsmethoden vorliegt. Auch bei einer Exploration. Der Proband ist nicht verpflichtet, die Wahrheit zu sagen oder überhaupt an einer Untersuchung teilzunehmen. Der möglichen Verfälschbarkeit suchen die moderneren Untersuchungsverfahren aber bereits Rechnung zu tragen. Ablenkbarkeit lässt sich ja auch nicht völlig willentlich steuern, komplexere Aufgaben sind schwerer zu verfälschen. Deswegen könnte ein entsprechender Befund schon prognostisch relevant sein: Wer es im Test nicht schafft, das Foto zu ignorieren, schafft es vermutlich in der Realität auch eher nicht, entsprechende Impulse zu kontrollieren. Die Fähigkeit, einen Reiz auszublenden, ist aber eine wichtige Voraussetzung, um nicht rückfällig zu werden.

Medscape Deutschland: Wird in Zukunft ein Test entscheiden, ob ein Sexualstraftäter freikommt oder in der Sicherheitsverwahrung bleibt?

Prof. Dr. Müller: Von einem Einsatz in der Praxis sind wir noch weit entfernt. Schnellschüsse helfen da wenig, wir brauchen noch viel mehr Forschung, die Ergebnisse müssten repliziert und validiert werden. Leider ist es schwer, die nötigen Studien zu realisieren. Zum einen gibt es wenig finanzielle Förderung, zum anderem scheitert es oft an ethischen oder auch rechtlichen Bedenken. Die potenziellen Probanden sind ja Untergebrachte, quasi Gefangene. Mit dieser Gruppe darf man normalerweise gar nicht forschen, weil das vulnerable Personen sind. Wir sind auf solche Ergebnisse aber angewiesen, um Behandlung und Prognose auf fundierte Fakten zu bauen. Das Potenzial neurobiologischer Techniken für die Forensik ist enorm. Deshalb dürfen wir mittelfristig nicht darauf verzichten.

 
Die Fähigkeit, einen Reiz auszublenden, ist aber eine wichtige Voraussetzung, um nicht rückfällig zu werden.
 

Medscape Deutschland: Die Gesellschaft wünscht sich eine hundertprozentig sichere Prognose. Ist das realistisch?

Prof. Dr. Müller: Die Tests können dazu beitragen, die Prognose zu verbessern. Aber 100 Prozent werden wir trotzdem nicht erreichen. Dies setzte ja voraus, dass menschliches Verhalten wirklich determiniert und zukünftige Entwicklungen kontrollierbar wären. Das Problem ist, dass die Öffentlichkeit jeden einzelnen Lockerungsmissbrauch sehr dramatisch sieht. Wenn nur ein Patient von einem Ausgang nicht zurückkehrt, wird gleich das ganze System in Frage gestellt – auch, wenn noch gar nichts passiert ist. Das ist ein schwieriges Umfeld, um unsere Forschung in der Praxis zu etablieren. Wir müssen aber auch bedenken, dass die meisten Prognosen gegenwärtig zu Lasten des Untergebrachten gefällt werden. So bleiben auch viele in der Unterbringung, die nicht straffällig geworden wären, wenn man sie nur entlassen hätte. Dies hat mit zur dramatischen Steigerung der Untergebrachten beigetragen.

 

REFERENZEN:

1. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, 26. bis 29. November 2014, Berlin – Symposium „Persönlichkeitsstörungen in der forensischen Psychiatrie: Signifikanz und Neurobiologie - offene Fragen und Perspektiven ‟ am 27. November 2014; Müller J: Helfen empirische Befunde bei der Beurteilung von Schuldfähigkeit und Prognose?

2. Lieder M: Im Wirbel der Neuronen. Tagesspiegel, 27. November 2014

 

Kommentar

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