Thromboseprophylaxe ohne erhöhtes Blutungsrisiko – ist die Senkung von Faktor XI der „Heilige Gral“ der Antikoagulation?

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

15. Dezember 2014

           

Prof. Dr. Wolfram Ruf

           

Eine Thromboseprophylaxe ohne  Beeinflussung der Hämostase? Nach derzeitiger Lehrmeinung geht das eigentlich  nicht zusammen. Eigentlich. Denn die Ergebnisse einer aktuell im New England  Journal of Medicine veröffentlichten randomisiert-kontrollierten Phase-2-Studie lassen eine solche Entkoppelung doch möglich erscheinen. So  verringerte die perioperative Anwendung von Faktor XI-Antisense-Oligonukleotid  (FXI-ASO) das Risiko venöser Thrombosen besser als die Standardtherapie – ohne  dabei das Risiko von Blutungen zu erhöhen [1].

„Faktor XI erweist sich als völlig neues therapeutisches Target“, sagt Prof.  Dr. Wolfram Ruf, Wissenschaftlicher Direktor des Centrums für Thrombose und  Hämostase der Universitätsmedizin Mainz. Im Gespräch mit Medscape  Deutschland zeigt er sich optimistisch, dass Faktor-XI-Hemmer – nach den  neuen oralen Antikoagulantien (NOAK)  –  zukünftig eine 3. Klasse von Gerinnungshemmern bilden und die therapeutische  Wahl erweitern könnten.

Faktor XI bot sich seit längerem als neuer Angriffspunkt an

Tatsächlich ist dieser Faktor  des intrinsischen Gerinnungssystems als ein ganz neuer Angriffspunkt in der  Thromboseprophylaxe schon seit mehreren Jahren auf dem Radar der Gerinnungsforscher.  Experimente mit Mäusen und Primaten hatten erste Hinweise auf die besonderen  Eigenschaften des Moleküls geliefert und auch beim Menschen ist bekannt, dass  ein angeborener Mangel des Gerinnungsfaktors mit einem verminderten  Thromboserisiko verbunden ist.

In der von Prof. Dr. Harry R. Büller und seinem  Forscherteam von der Universität  Amsterdam  koordinierten Mulitcenter-Studie kam ein Antisense-Oligonukleotid zum Einsatz,  das den Faktor-XI-Spiegel über eine reduzierte mRNA-Expression in der Leber absenkt.  Die Open-Label-Studie – finanziert vom FXI-ASO-Hersteller Isis Pharmaceuticals  – sollte nun erstmals Aufschluss über Wirksamkeit und Sicherheit des Wirkstoffs  im perioperativen Einsatz beim Menschen geben.

 
Faktor XI erweist sich als völlig neues therapeutisches Target. Prof. Dr. Wolfram Ruf
 

Studienvergleich mit einem Heparin

Insgesamt 300 Patienten, die  zwischen Juli 2013 und März 2014 an 19 Zentren in Kanada, Russland, Bulgarien,  Lettland oder der Ukraine eine Knietotalendoprothese erhalten hatten, wurden in  die Studie aufgenommen. 147 Studienteilnehmer erhielten subkutane FXI-ASO  Injektionen mit einer Dosierung von 200 mg, 78 erhielten den Wirkstoff mit  einer Dosierung von 300 mg und 75 Patienten wurde regelmäßig 40 mg des  Hepartins Enoxaparin injiziert.

FXI-ASO wurde dabei –  unabhängig von der jeweiligen Dosierung – erstmals 36 Tage vor dem Eingriff  (Tag 1) verabreicht. Weitere Injektionen folgten an den Tagen 3, 5, 8, 15, 22,  und 29 sowie 6 Stunden nach dem Eingriff (Tag 36). Die letzte Injektion gab es  schließlich an Tag 39. Die erste Enoxaparin-Injektion bekamen die Studienteilnehmer  entweder am Abend vor dem Eingriff oder 6 bis 8 Stunden danach; zudem folgten  tägliche Injektionen bis mindestens 8 Tage nach der OP.

Als primären  Wirksamkeitsendpunkt hatten die Autoren die Häufigkeit venöser Thromboembolien festgelegt,  diagnostiziert per Phlebographie 8 bis 12 Tage nach der OP. Klinisch relevante  Blutungen, die bei regelmäßigen Follow-ups bis 3 Monate nach dem Eingriff  dokumentiert wurden, dienten als Bewertungsfaktor für die Sicherheit der Therapie.  Als pharmakologische Parameter wurden im Studienzeitraum zudem u.a. die Faktor  XI-Spiegel dokumentiert.

Weniger Thrombosen – aber keine verstärkte Blutungsneigung

Die von den Studienautoren dokumentierten  Ergebnisse muten fast wie die Entdeckung des „Heiligen Grals der Antikoagulationstherapie“  an, wie es Prof. Dr. Robert Flaumenhaft von der Harvard Medical School in seinem Editorial im NEJM formuliert  [2].

So gab es keine signifikanten  Unterschiede hinsichtlich der Thrombosehäufigkeit zwischen den  Studienteilnehmern, die 200 mg FXI-ASO (27% bzw. 36 von 134 Patienten) oder  Enoxaparin (30% bzw. 21 von 69 Patienten) erhalten hatten. Beide Therapien waren  damit hinsichtlich des primären Wirksamkeitsparameters zumindest gleichwertig. Deutlich  besser als das Standardkoagulanz war jedoch das Behandlungsregime mit einer 300  mg FXI-ASO-Dosierung: Nur bei 4% der Studienteilnehmer (3 von 71 Patienten)  wurde eine venöse Thrombose diagnostiziert.

 
Bei relativ hoher Sicherheit senkte das Antisense-Oligonukleotid dosisabhängig das Thromboserisiko stärker als die Standardtherapie. Prof. Dr. Wolfram Ruf
 

Zugleich gab es im Hinblick  auf die Blutungshäufigkeit keine signifikanten Unterschiede zwischen den Studiengruppen  (200 mg FXI-ASO: 3%; 300 mg FXI-ASO: 3%; Enoxaparin: 8%).

„Bei relativ hoher Sicherheit senkte das Antisense-Oligonukleotid  dosisabhängig das Thromboserisiko stärker als die Standardtherapie“, fasst Ruf die Ergebnisse zusammen. Das neue Therapiekonzept  habe sich damit zunächst einmal bewährt. Gleichwohl, sagt er, müssten die  Resultate noch an größeren Patientenpopulationen überprüft werden.

Vorteile bei orthopädischen Operationen oder chronischer  Antikoagulation

Ruf wagt trotzdem schon einmal  einen Blick in die Zukunft: So kann er sich etwa den Einsatz von  Antisense-Oligonukleotiden weiterhin im Bereich orthopädischer Operationen  vorstellen. „Das Risiko einer Thrombenbildung liegt bei diesen Eingriffen bei  etwa 30 Prozent“, sagt er. Die Effizienz des Faktor XI-Hemmers verspreche  deshalb erhebliche Vorteile. Da die Eingriffe außerdem meist Monate im Voraus  geplant würden, könnte man das vergleichsweise aufwändige Behandlungsprotokoll  dabei auch umsetzen.

Vorstellen könnte er sich aber  genau wie Büller und seine Kollegen auch die Anwendung bei chronischen  Erkrankungen. „Wegen der langsam einsetzenden Wirkung eignet sich FXI-ASO nicht  als alleinige Therapie, wenn ein rasch einsetzender antithrombotischer Effekt  notwendig ist, aber das  Profil eröffnet Möglichkeiten für das Management einer Reihe chronischer  thrombotischer Erkrankungen.“

Die (Weiter-) Entwicklung von Faktor-XI-Hemmern ist zumindest  gerechtfertigt

 
Das Profil (der Antisense-Oligonukleotide) eröffnet aber Möglichkeiten für das Management einer Reihe chronischer thrombotischer Erkrankungen. Prof. Dr. Harry R. Büller et al.
 

Ob FXI-ASO tatsächlich eine  überlegene Wirkung gegenüber Standardtherapien habe, sei noch nicht  abschließend erwiesen, meint Flaumenhaft. So sei etwa das allgemeine Blutungsrisiko  nach dem Einsatz einer Knieendoprothese ohnehin sehr gering, auch bei der  Verwendung eines Antikoagulanz. Da sich hier keine signifikanten Unterschiede  zwischen den einzelnen Behandlungsregimes ergeben hatten, ließe sich noch keine  abschließende Aussage bezüglich der Wirkung auf die Blutungsneigung treffen.

Auch dass die Faktor-XI-Spiegel der mit FXI-ASO behandelten Patienten noch 70 Tage nach Beginn der  Behandlung um rund 60% reduziert waren, lässt seiner Ansicht nach noch Fragen  hinsichtlich der Angemessenheit und Reversibilität der Anwendung bei operierten  Patienten offen. Letztlich rechtfertige die Studie aber durchaus überzeugend  die Entwicklung weiterer Moleküle und Antikörper mit Faktor XI als  Angriffspunkt.

 

REFERENZEN:

1. Büller HR, et al: NEJM (online)  7. Dezember 2014

2. Flaumenhaft R: NEJM (online) 7.  Dezember 2014

 

Kommentar

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