
Prof. Dr. Wolfram Ruf
Eine Thromboseprophylaxe ohne Beeinflussung der Hämostase? Nach derzeitiger Lehrmeinung geht das eigentlich nicht zusammen. Eigentlich. Denn die Ergebnisse einer aktuell im New England Journal of Medicine veröffentlichten randomisiert-kontrollierten Phase-2-Studie lassen eine solche Entkoppelung doch möglich erscheinen. So verringerte die perioperative Anwendung von Faktor XI-Antisense-Oligonukleotid (FXI-ASO) das Risiko venöser Thrombosen besser als die Standardtherapie – ohne dabei das Risiko von Blutungen zu erhöhen [1].
„Faktor XI erweist sich als völlig neues therapeutisches Target“, sagt Prof. Dr. Wolfram Ruf, Wissenschaftlicher Direktor des Centrums für Thrombose und Hämostase der Universitätsmedizin Mainz. Im Gespräch mit Medscape Deutschland zeigt er sich optimistisch, dass Faktor-XI-Hemmer – nach den neuen oralen Antikoagulantien (NOAK) – zukünftig eine 3. Klasse von Gerinnungshemmern bilden und die therapeutische Wahl erweitern könnten.
Faktor XI bot sich seit längerem als neuer Angriffspunkt an
Tatsächlich ist dieser Faktor des intrinsischen Gerinnungssystems als ein ganz neuer Angriffspunkt in der Thromboseprophylaxe schon seit mehreren Jahren auf dem Radar der Gerinnungsforscher. Experimente mit Mäusen und Primaten hatten erste Hinweise auf die besonderen Eigenschaften des Moleküls geliefert und auch beim Menschen ist bekannt, dass ein angeborener Mangel des Gerinnungsfaktors mit einem verminderten Thromboserisiko verbunden ist.
In der von Prof. Dr. Harry R. Büller und seinem Forscherteam von der Universität Amsterdam koordinierten Mulitcenter-Studie kam ein Antisense-Oligonukleotid zum Einsatz, das den Faktor-XI-Spiegel über eine reduzierte mRNA-Expression in der Leber absenkt. Die Open-Label-Studie – finanziert vom FXI-ASO-Hersteller Isis Pharmaceuticals – sollte nun erstmals Aufschluss über Wirksamkeit und Sicherheit des Wirkstoffs im perioperativen Einsatz beim Menschen geben.
Studienvergleich mit einem Heparin
Insgesamt 300 Patienten, die zwischen Juli 2013 und März 2014 an 19 Zentren in Kanada, Russland, Bulgarien, Lettland oder der Ukraine eine Knietotalendoprothese erhalten hatten, wurden in die Studie aufgenommen. 147 Studienteilnehmer erhielten subkutane FXI-ASO Injektionen mit einer Dosierung von 200 mg, 78 erhielten den Wirkstoff mit einer Dosierung von 300 mg und 75 Patienten wurde regelmäßig 40 mg des Hepartins Enoxaparin injiziert.
FXI-ASO wurde dabei – unabhängig von der jeweiligen Dosierung – erstmals 36 Tage vor dem Eingriff (Tag 1) verabreicht. Weitere Injektionen folgten an den Tagen 3, 5, 8, 15, 22, und 29 sowie 6 Stunden nach dem Eingriff (Tag 36). Die letzte Injektion gab es schließlich an Tag 39. Die erste Enoxaparin-Injektion bekamen die Studienteilnehmer entweder am Abend vor dem Eingriff oder 6 bis 8 Stunden danach; zudem folgten tägliche Injektionen bis mindestens 8 Tage nach der OP.
Als primären Wirksamkeitsendpunkt hatten die Autoren die Häufigkeit venöser Thromboembolien festgelegt, diagnostiziert per Phlebographie 8 bis 12 Tage nach der OP. Klinisch relevante Blutungen, die bei regelmäßigen Follow-ups bis 3 Monate nach dem Eingriff dokumentiert wurden, dienten als Bewertungsfaktor für die Sicherheit der Therapie. Als pharmakologische Parameter wurden im Studienzeitraum zudem u.a. die Faktor XI-Spiegel dokumentiert.
Weniger Thrombosen – aber keine verstärkte Blutungsneigung
Die von den Studienautoren dokumentierten Ergebnisse muten fast wie die Entdeckung des „Heiligen Grals der Antikoagulationstherapie“ an, wie es Prof. Dr. Robert Flaumenhaft von der Harvard Medical School in seinem Editorial im NEJM formuliert [2].
So gab es keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Thrombosehäufigkeit zwischen den Studienteilnehmern, die 200 mg FXI-ASO (27% bzw. 36 von 134 Patienten) oder Enoxaparin (30% bzw. 21 von 69 Patienten) erhalten hatten. Beide Therapien waren damit hinsichtlich des primären Wirksamkeitsparameters zumindest gleichwertig. Deutlich besser als das Standardkoagulanz war jedoch das Behandlungsregime mit einer 300 mg FXI-ASO-Dosierung: Nur bei 4% der Studienteilnehmer (3 von 71 Patienten) wurde eine venöse Thrombose diagnostiziert.
Zugleich gab es im Hinblick auf die Blutungshäufigkeit keine signifikanten Unterschiede zwischen den Studiengruppen (200 mg FXI-ASO: 3%; 300 mg FXI-ASO: 3%; Enoxaparin: 8%).
„Bei relativ hoher Sicherheit senkte das Antisense-Oligonukleotid dosisabhängig das Thromboserisiko stärker als die Standardtherapie“, fasst Ruf die Ergebnisse zusammen. Das neue Therapiekonzept habe sich damit zunächst einmal bewährt. Gleichwohl, sagt er, müssten die Resultate noch an größeren Patientenpopulationen überprüft werden.
Vorteile bei orthopädischen Operationen oder chronischer Antikoagulation
Ruf wagt trotzdem schon einmal einen Blick in die Zukunft: So kann er sich etwa den Einsatz von Antisense-Oligonukleotiden weiterhin im Bereich orthopädischer Operationen vorstellen. „Das Risiko einer Thrombenbildung liegt bei diesen Eingriffen bei etwa 30 Prozent“, sagt er. Die Effizienz des Faktor XI-Hemmers verspreche deshalb erhebliche Vorteile. Da die Eingriffe außerdem meist Monate im Voraus geplant würden, könnte man das vergleichsweise aufwändige Behandlungsprotokoll dabei auch umsetzen.
Vorstellen könnte er sich aber genau wie Büller und seine Kollegen auch die Anwendung bei chronischen Erkrankungen. „Wegen der langsam einsetzenden Wirkung eignet sich FXI-ASO nicht als alleinige Therapie, wenn ein rasch einsetzender antithrombotischer Effekt notwendig ist, aber das Profil eröffnet Möglichkeiten für das Management einer Reihe chronischer thrombotischer Erkrankungen.“
Die (Weiter-) Entwicklung von Faktor-XI-Hemmern ist zumindest gerechtfertigt
Ob FXI-ASO tatsächlich eine überlegene Wirkung gegenüber Standardtherapien habe, sei noch nicht abschließend erwiesen, meint Flaumenhaft. So sei etwa das allgemeine Blutungsrisiko nach dem Einsatz einer Knieendoprothese ohnehin sehr gering, auch bei der Verwendung eines Antikoagulanz. Da sich hier keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Behandlungsregimes ergeben hatten, ließe sich noch keine abschließende Aussage bezüglich der Wirkung auf die Blutungsneigung treffen.
Auch dass die Faktor-XI-Spiegel der mit FXI-ASO behandelten Patienten noch 70 Tage nach Beginn der Behandlung um rund 60% reduziert waren, lässt seiner Ansicht nach noch Fragen hinsichtlich der Angemessenheit und Reversibilität der Anwendung bei operierten Patienten offen. Letztlich rechtfertige die Studie aber durchaus überzeugend die Entwicklung weiterer Moleküle und Antikörper mit Faktor XI als Angriffspunkt.
REFERENZEN:
1. Büller HR, et al: NEJM (online) 7. Dezember 2014
2. Flaumenhaft R: NEJM (online) 7. Dezember 2014
Diesen Artikel so zitieren: Thromboseprophylaxe ohne erhöhtes Blutungsrisiko – ist die Senkung von Faktor XI der „Heilige Gral“ der Antikoagulation? - Medscape - 15. Dez 2014.
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