Findet man bereits im Blut von Säuglingen Autoantikörper, die mit einem juvenilem Diabetes assoziiert sind, so erkranken sie seltener an einem manifesten Typ-1-Diabetes, wenn sie mindestens ein Jahr oder länger gestillt wurden. Zu diesem Schluss gelangt eine Gruppe norwegischer Wissenschaftler um Dr. Nicolai A. Lund-Blix von der Universitätsklinik in Oslo, die ihre Ergebnisse jetzt in der Zeitschrift Diabetes Care veröffentlicht haben [1]. Ob die Kinder beim Stillen mit fester oder halbfester Nahrung zugefüttert werden, spielt dabei keine Rolle.

Dr. Sandra Hummel
„Die Studie ist solide und statistisch korrekt“, betont Dr. Sandra Hummel, Institut für Diabetesforschung, Helmholtz-Zentrum München, „aber ihr Umfang ist deutlich kleiner als der von anderen prospektiven Studien zum Thema Stillen und Typ-1-Diabetes. Die norwegischen Kollegen hatten lediglich 25 diabetische Kinder beobachtet und auch die Nachbeobachtungszeit der Kinder war deutlich kürzer als in vergleichbaren Studien. Daher würde ich Müttern zunächst nicht raten, länger zu stillen, um ihr Kind vor einer Typ-1-Diabeteserkrankung zu schützen.“
Schutz durch längeres Stillen belegt
Die norwegischen Wissenschaftler rekrutierten zwischen 2001 und 2007 insgesamt 726 Neugeborene mit einem Hochrisiko-HLA-Genotypen (Human Leukocyte Antigen). Im Alter von 3, 6, 9 und 12 Monaten, danach im Jahresabstand, sammelten sie Blutproben und befragten die Eltern zur Ernährung. Die 3 Hauptfragen lauteten dabei: Welche Art von Milch erhielten die Kinder – Muttermilch, künstliche Milch oder andere Milch? In welcher Häufigkeit? Wurde regelmäßig feste beziehungsweise halbfeste Nahrung zugefüttert? Um eine genaue Beantwortung zu gewährleisten, wurden die Eltern angehalten, Protokolle über die Nahrungsaufnahme ihrer Kinder zu führen.
Die Blutproben wurden auf die mit juvenilem Diabetes assoziierten Inselautoantikörper Insulin-Autoantikörper (IAA), Glutamatdecarboxylase-Autoantikörper (GADA) sowie Autoantikörper gegen die Tyrosinkinase IA-2 (IA-2A) getestet. „Das sind die drei wichtigsten Antikörper zur Früherkennung des juvenilen Diabetes“, bestätigt Hummel, „auch wenn es mittlerweile mit dem Autoantikörper gegen den Zinktransporter (ZnT-8) einen weiteren Prädiktor gibt, den wir in unseren Auswertungen nutzen.“
Eine Inselautoimmunität, also das Auftreten der genannten Inselautoantikörper, die sich gegen die Insulin produzierenden Beta-Zellen richten, trat bei 56 der insgesamt 726 Kinder auf. Bei 44,4% der Kinder trat GADA als alleiniger Autoantikörper auf, bei 20,4% der Kinder war es IAA. Bei 18,5% aller Säuglinge tauchten GADA und IAA in Kombination auf, IA-2 wurde hingegen nur bei 1,9% der Probanden gefunden. Andere Kombinationen machten 14,8% der Fälle aus.
Zwar war das Risiko, einen Typ-1-Diabetes (T1D) zu entwickeln, bei Kindern mit Inselautoimmunität verringert, wenn sie länger gestillt wurde. Die Länge der Stillzeit selbst korrelierte jedoch nicht in irgendeiner Form mit dem Auftreten einer Inselautoimmunität. „Dabei war auch die Dauer der Stillzeit ohne Zufütterung nicht mit dem Risiko einer Inselautoimmunität oder eines Typ-1-Diabetes assoziiert“, halten die Autoren fest.
Andere Ergebnisse für Deutschland
„Diese Ergebnisse stimmen nicht mit unseren Ergebnissen überein“, schränkt Hummel ein. Die so genannte BABYDIAB-Studie, an der auch die Münchner Diabetologin mitwirkt und in die knapp 2.300 Kinder eingeschlossen wurden, startete im Jahr 1989 und läuft noch immer. Sie ergab keinen Hinweis auf die Schutzwirkung einer längeren Stillperiode.
„Da die norwegischen Kollegen nur sehr wenige Fälle von Kindern mit Diabetes beobachteten, ist der Zusammenhang zunächst einmal mit Vorsicht zu betrachten. In unseren prospektiven Studien beobachten wir nicht nur sehr viel mehr Kinder, sondern beobachten sie inzwischen auch wesentlich länger.“ Die meisten Kinder der norwegischen Studie wiesen lediglich GADA als Marker für Typ-1-Diabetes auf. „Aus unseren Untersuchungen wissen wir, dass sich bei diesen Kindern häufig erst mehrere Jahre später aus der Inselautoimmunität ein Diabetes entwickelt, Von daher wäre eine längere Beobachtungszeit wichtig.“
Die Münchner analysieren in ihren Untersuchungen auch das Auftreten eines oder mehrerer Antikörper als Endpunkt und haben die Erfahrung gemacht, dass Kinder mit mehr als einem Autoantikörper im Blut ein deutlich höheres Risiko für T1D haben. Multiple Autoantikörper betrachten sie daher als einen „fortgeschrittenen“ Endpunkt.
Andererseits gibt es in Deutschland im Vergleich zu Norwegen sehr viel weniger Kinder, die so lange gestillt werden. In Norwegen sind es mehr als 40%, während in Deutschland weniger als jedes fünfte Kind ein Jahr oder länger gestillt wird. „So könnte es durchaus sein, dass in deutschen Studien dieser Schutz schlicht nicht aufgefallen ist.“
Große länderspezifische Unterschiede
Die verschiedenen Studiendesigns sind für Hummel nicht die einzige Erklärung für die voneinander abweichenden Ergebnisse: „Es gibt sehr viele länderspezifische Unterschiede, über die wir immer wieder staunen. So zeigt die norwegische Studie zum Beispiel, dass das Stillen unabhängig von der Einführung fester Kost einen schützenden Effekt hat. In den USA war ein schützender Effekt des Stillens nur zu beobachten, wenn während der Einführung fester Beikost gestillt wurde, und bei uns konnte kein schützender Effekt des Stilles nachgewiesen werden.”
Auch die Inzidenz des Typ-1-Diabetes ist in den vergangenen Jahren in Norwegen nicht weiter angestiegen – im Gegensatz zu Deutschland. Die Erklärung hierfür sind vermutlich unterschiedliche Umweltbedingungen. In Deutschland zum Beispiel werden vor allem Obst, Kartoffeln, Karotten und anderes Gemüse als erste Beikost zugefüttert. In den USA nutzen Eltern überwiegend Reis als feste Beikost und in Schweden ist ein Getreidebrei gang und gäbe.
Um diese Unterschiede besser zu verstehen, wurde im Jahr 2004 die vom US-amerikanischen National Institute of Health (NIH) finanzierte TEDDY-Studie gestartet, für die die USA, Finnland, Schweden und Deutschland ein gemeinsames Studienprotokoll entwickelt haben. Die Kinder sollen grenzüberschreitend über 15 Jahre nachverfolgt werden.
Ein weiterer Punkt, der international sehr unterschiedlich ausfällt, ist der Moment der Zufütterung. Während in Deutschland in der BABYDIAB-Studie eine Zufütterung glutenhaltiger Nahrung während der ersten 3 Lebensmonate das Risiko der Kinder für Inselautoimmunität erhöhte, zeigte sich in den USA, dass eine Einführung getreidehaltiger Kost vor dem 4. und nach dem 7. Lebensmonat für das Immunsystem belastend sein kann.
Das ist ein Ergebnis, für das es in Deutschland keine Entsprechung gibt. „Bei uns zeigte sich nun in einer Interventionsstudie mit einem Follow-up von etwa acht Jahren, dass ein Verzicht auf Gluten während des ersten Lebensjahres keinen Einfluss auf die Entstehung von Inselautoimmunität hat.“ Diese Follow-up-Ergebnisse der BABYDIÄT-Studie, bei der die Kinder entweder 6 oder 12 Monate glutenfrei ernährt worden waren, ohne dass ein Zusatznutzen erkennbar geworden wäre, wurden im September 2014 veröffentlicht.
Keine neuen Empfehlungen zum Stillen
Hummel will deshalb aus der norwegischen Studie keine Konsequenzen für die Praxis ziehen: „Zum einen haben mir Erklärungsmodelle für die Beobachtung gefehlt. Die Ursachen für den scheinbaren Schutz wurden nicht angesprochen. Waren es womöglich unterschiedliche Ernährungsweisen der gestillten Kinder? Ganz abgesehen davon haben Mütter mit Typ-1-Diabetes mehr Schwierigkeiten als andere mit dem Stillen. Man sollte sie deswegen nicht noch mehr unter Druck setzen, es dann auch noch so viel länger durchzuhalten.“
Die Gründe für die Schwierigkeiten sind mannigfaltig. Da die Kinder bereits im Mutterleib mit viel Zucker versorgt werden, sind sie größer als Kinder gesunder Mütter, so dass es oft zu einer Entbindung vor der 37. Schwangerschaftswoche per Kaiserschnitt kommt. Das wiederum hat oft eine Trennung direkt nach der Geburt zur Folge. Das fehlende frühe Bonding führt nachweislich oft zu einem verzögerten Milcheinschuss bei den Müttern.
Da die Neugeborenen jedoch aufgrund der Überversorgung mit Zucker über sehr viel Insulin verfügen, unterzuckern sie schnell, so dass noch in vielen Krankenhäusern sofort zugefüttert wird. Das schließlich erschwert das Stillen zusätzlich. „Die Mütter stehen ohnehin unter einem hohen psychischen Druck, weil sie fürchten, aufgrund ihrer familiären Belastung ihrem Kind ihre Erkrankung weiterzugeben. Diesen Druck sollte man auf keinen Fall unnötig erhöhen.“
REFERENZEN:
Diesen Artikel so zitieren: Mit Muttermilch gegen Typ-1-Diabetes: Bremst längeres Stillen die Autoimmunerkrankung? - Medscape - 5. Dez 2014.
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