Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind beunruhigt. Das neue Versorgungsstärkungsgesetz von Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) will die Wiederbesetzung von Arztpraxen in überversorgten Gebieten verhindern. Stattdessen sollen die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) künftig diese Praxen aufkaufen und stilllegen, so lange der betreffende Bezirk überversorgt ist.
Bisher können sie dies tun (Paragraf 103b SGBV). „Anträge auf Nachbesetzung eines Vertragsarztsitzes müssten demnach in überversorgten Regionen künftig abgelehnt werden“, so die KV Bremen in einer Pressemitteilung [1]. Der Referentenentwurf des Gesetzes liegt Medscape Deutschland vor.
Was die Kven besonders ärgert: Im selben Gesetz will das Bundesgesundheitsministerium (BMG) die Wartezeiten in den Arztpraxen der Niedergelassenen reduzieren. „Einerseits schreibt der Gesetzgeber eine Termingarantie binnen vier Wochen fest. Andererseits werden wir gezwungen, in Bremen jeden fünften Arztsitz abzuschaffen. Es ist jedem einleuchtend, dass dies beim besten Willen nicht zusammenpasst“, protestiert Günther Scherer, stellvertretender Vorsitzender der KV Bremen.
Tausende von Praxen würden wegfallen
Kurz vor den ersten Expertenanhörungen zum neuen Gesetz bringen sich die KVen derzeit in Stellung: Landauf, landab verweisen sie auf den Schaden, den das Gesetz nach sich ziehen würde. In Bayern wären „rund 620 Hausärzte, 2.770 Fachärzte und 1.210 Psychotherapeuten zu viel tätig“, schreibt die KV Bayerns an den Landtags- und den Gemeindetagspräsidenten des Landes [2].
Bremen rechnet damit, „dass bis zu 350 Ärzte und Psychotherapeuten aus der Versorgung verschwinden“, vor allem Internisten, Kinderärzte und Psychotherapeuten. Nimmt man die rechnerische Überversorgung als Gradmesser, bedeute das Gesetz „für Niedersachsen der Wegfall von 1.346 Facharztpraxen, 634 Psychotherapeutenpraxen und 158 Hausarztpraxen“, sagt Mark Barjenbruch, Vorstandsvorsitzender der KV Niedersachsen [3].
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) rechnet bundesweit mit dem Wegfall von mehr als 25.000 niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten [4].
Keine Bedarfsplanung bis 1977
Die Grenze zur Überversorgung liegt bei 110%. „Die bundeseinheitliche Verhältniszahl beträgt zum Beispiel bei Hausärzten 1.671 Einwohner auf einen Arzt“, erklärt Kristine Reis, Leiterin der Stabsabteilung Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA): „Wenn das Versorgungsniveau um zehn Prozent über dem Durchschnitt liegt, wird ein Planungsbereich für weitere ärztliche Zulassungen gesperrt.“
Tatsächlich ist aber zum Beispiel das niedersächsische Wunsdorf mit 141% Hausärzten deutlich überversorgt. Wie konnte es dazu kommen? Das Problem ist hausgemacht. Bis 1977 ließen sich die Ärzte nieder, wo sie wollten. Damals wie heute gab und gibt es beliebte und unbeliebte Gegenden für die eigene Praxis. Erst 1977 kam die Bedarfsplanung, um die Ungleichverteilung zu beenden. Man übernahm den Status quo – inklusive der ungleichen Praxenverteilung. Dass Sonderzulassungen bis heute auch dort neue Praxen sprießen lassen, wo laut Bedarfsplanung genug sind, tut ein Übriges.
Der Gesetzentwurf ist unausgegoren
Abgesehen von der Widersprüchlichkeit im Gesetz dürften auch die Ärzte selbst das Ganze nicht mitmachen. „Es ist fatal, dass ausgerechnet die Ärzte über ihre Beiträge an ihre KVen das Geld für die Arztsitze ihrer Kollegen bezahlen sollen“, sagt Christoph Fox, Sprecher der KV Bremen zu Medscape Deutschland.
Immerhin seien es nicht nur die KVen gewesen, die die neuen Arztsitze in überversorgten Gebieten zugelassen haben, so eine Sprecherin der KBV zu Medscape Deutschland. Die Zulassungsausschüsse seien mit Kassen- und KV-Vertretern paritätisch besetzt, hieß es. In der Tat haben damit auch die Kassenvertreter ihre Hand gehoben, wenn es um weitere Zulassungen ging, selbst in überversorgten Gebieten. Ob für die KBV daraus folge, dass auch die Kassen für den Aufkauf der Praxen Geld auf den Tisch legen sollten, wollte die Sprecherin nicht bestätigen.
Bedenkt man zudem, wie enorm teuer etwa allein die Praxis eines einzigen Radiologen wäre, müssten die KVen über kurz oder lang Beitragserhöhungen diskutieren – ein rotes Tuch für die Vertragsärzte.
Auf der anderen Seite flösse den Vertragsärzten im Falle von Praxisaufkäufen aber auch mehr Honorar zu, wie Detlef Haffke sagt, Sprecher der KV Niedersachsen. „Denn dann bleiben weniger Praxen übrig, die sich das Budget teilen. Darum geht es aber nicht. Sondern wenn die Zahl der Praxen reduziert wird, dann verschlechtert sich die Versorgung. Darum geht es.“
Alterssicherung – ade?
Abgesehen von den Konsequenzen für die Vertragsärzte, die KVen und die Versorgung könnten auch die Ärzte selbst in die Röhre gucken, deren Praxen von ihrer KV aufgekauft würden. „Letztlich ist die Praxis für jeden Inhaber auch die Alterssicherung“, sagt Thomas Hahn, Pressereferent beim NAV-Virchowbund, dem Verband der Niedergelassenen Ärzte Deutschlands. Weder die KBV noch das BMG wussten zu sagen, zu welchen Preisen die KVen die fraglichen Praxen übernehmen sollten.
„Kein Arzt würde in einer solchen ungewissen Lage noch in die Praxis investieren“, sagt Hahn. „Im Übrigen ist offen, wie die Anzahl der Privatpatienten in den Preis mit einfließen würde, ist die KV doch nur für die GKV-Patienten zuständig.“
Das Bundesgesundheitsministerium will sich zu den Einwänden der KVen derzeit nicht äußern. Das Gesetz sei im Abstimmungsprozess. Nach den Expertenanhörungen befasst sich Anfang Dezember das Bundeskabinett mit dem Gesetz.
REFERENZEN:
1. Pressemitteilung der Kassenärztlichen Vereinigung Bremen (KVB) vom 14.Oktober 2014: „Gesetz rasiert Versorgung“: http://www.kvhb.de/sites/default/files/KM-20141014-PM%2013%20Arztsitzaufkauf.pdf
2. Kassenärztliche Vereinigung Bayern: Offener Brief des KBV-Vorstandsvorsitzenden Dr. Wolfgang Krombholz „Verpflichtender Praxenaufkauf gefährdet die ambulante Versorgung“, 16. Oktober 2014: http://www.kvb.de/presse/statements/verpflichtender-praxisaufkauf-gefaehrdet-ambulante-versorgung
3. Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen: Pressemitteilung „Versorgungsstärkungsgesetz: KV Niedersachsen warnt vor Verschlechterung der ärztlichen Versorgung“, 14. Oktober 2014: http://www.kvn.de/Startseite/broker.jsp?uMen=73e70a92-b004-e121-cf5a-7e25028130e5&_ic_uCon=99d5092b-f8d3-f841-4241-0641b8ff6bcb&uTem=aaaaaaaa-aaaa-aaaa-aaaa-000000000012
4. Kassenärztliche Bundesvereinigung: Pressemitteilung „Viel Schatten und ein wenig Licht“, 14. Oktober 2014: http://www.kbv.de/html/4475_11869.php
Diesen Artikel so zitieren: Alterssicherung ade? Die KVen warnen vor dem neuen Versorgungsstärkungsgesetz - Medscape - 22. Okt 2014.
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