Im Oktober hat das Bundeskabinett das neue Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf endlich auf den Weg gebracht [1, 2]. Eine Neuerung darin ist besonders bedeutsam: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können sich 10 Tage eine bezahlte Auszeit von der Arbeit nehmen, um sich um ihre pflegebedürftigen Angehörigen zu kümmern. Im Übrigen entwickelt der neue Gesetzentwurf das Pflegezeitgesetz und das Familienpflegezeitgesetz weiter.
Kritiker würdigen zwar den Gesetzentwurf. Aber sie bemängeln, dass er die Lebenswirklichkeit der pflegenden Angehörigen nicht ausreichend berücksichtigt.
Was gibt es für Ersatzleistungen für den, der pflegt?
Ab dem 1. Januar 2015 haben Arbeitnehmer erstens einen Rechtsanspruch darauf, sich 10 Tage lang von der Arbeit frei zu nehmen, um zuhause akute Fragen der Angehörigenpflege zu klären, etwa einen Heimplatz zu organisieren. In dieser Zeit erhalten sie bis zu 90% ihres Nettogehaltes als „Lohnersatzleistung“ weiter bezahlt.
Zweitens können sie bis zu 6 Monate Pflegezeit beanspruchen, zum Beispiel, um einen Angehörigen in der Sterbephase zu begleiten oder einen erkrankten Angehörigen zu pflegen. In diesem Fall fließen keine Lohnersatzleistungen. Aber die Arbeitnehmer können vom Bund einen zinslosen Kredit beantragen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Drittens sollen Arbeitnehmer das Recht erhalten, 24 Monate Familienpflegezeit ohne Lohnersatzleitung, aber ebenfalls mit zinslosem Darlehen in Anspruch zu nehmen. In diesem Fall müssen sie aber weiterhin mindestens 15 Wochenarbeitsstunden leisten.
Die Pflegenden haben aber nur dann ein Recht auf Pflegezeit oder Familienpflegezeit, wenn der Betrieb, in dem sie arbeiten, 15 oder mehr Mitarbeiter hat. Kündigungsschutz besteht in jedem Fall. Ebenfalls neu: Als nahe Angehörige und damit als anspruchsberechtigt gelten ab 1. Januar 2015 auch die Stiefeltern, der Schwager und die Schwägerin sowie lebenspartnerschaftsähnliche Gemeinschaften.
Bürokratischen Aufwand verringern
Die Neuregelung soll 100 Millionen Euro kosten, Geld, das aus der Pflegeversicherung gezahlt werden soll. Zwar konnten Arbeitnehmer auch schon seit 2012 die Familienpflegezeit beanspruchen. Aber sie hatten weder einen Rechtsanspruch darauf, noch die Möglichkeit, einen zinslosen Kredit vom Staat aufzunehmen, erläutert der Versorgungsforscher Prof. Dr. Heinz Rothgang, Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung des Zentrums für Sozialpolitik (ZeS) der Universität Bremen.
Wie er gegenüber Medscape Deutschland ausführt, mussten früher deshalb die Arbeitnehmer unter hohem bürokratischem Aufwand die Familienpflegezeit mit ihren Chefs verhandeln. So blieb das damals beschlossene Gesetz praktisch ohne Effekt. „Das Familienpflegezeitgesetz war ein Flop. Bis zum Jahr 2013 haben es nur rund 150 Nutzer in Anspruch genommen“, sagt Rothgang. Das Pflegezeitgesetz besteht sogar schon seit 2008 und wird nun durch Rechtsanspruch und Kreditmöglichkeit ergänzt.
Immer mehr Pflegebedürftige, immer weniger Pflegende
„Die Familien sind der größte Pflegedienst der Nation und das Gesetz deshalb ein guter Schritt“, erklärt Rothgang. Laut BARMER-Pflegereport vom vergangenen Jahr wurden 2012 rund 1,5 Millionen Pflegebedürftige zuhause gepflegt, entweder nur von Angehörigen oder mit Hilfe ambulanter Dienste [3]. „Die Hälfte aller, die einen Angehörigen pflegen, schränkt ihre Arbeit derzeit noch ein oder hört ganz auf. Besonders für sie ist das Gesetz von Nutzen“, sagt Rothgang.
Aber Familien leben immer öfter weit verstreut und unterstützen einander nicht mehr in der Pflege. „Zugleich steigt die Zahl der Pflegebedürftigen“, so Rothgang. Der BARMER-Pflegereport, den Rothgang mitverfasst hat, zählt 2,5 Millionen Pflegebedürftige im Jahr 2011 (die Bundesregierung gibt die aktuelle Zahl mit 2,63 Millionen an).
Für das Jahr 2050 erwarten die einschlägigen Stellen rund 4,5 Millionen Pflegebedürftige. Durch die auseinanderdriftenden Zahlen von Menschen, die der Pflege bedürfen, und den Angehörigen, die Pflege gewährleisten, sei der Nutzen des Gesetzes daher begrenzt, meinen auch die Kritiker.
Weniger optimistisch als Rothgang sieht deshalb Prof. Dr. Stefan Görres, Abteilungssprecher Pflege am Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) der Universität Bremen, das Gesetzesvorhaben der Bundesregierung. Auch mit dem neuen Gesetz bleibe die Pflegesituation „ein ungelöstes Problem“, so Görres zu Medscape Deutschland. Die 10 Tage Freistellung reichten gerade mal, um die Pflege zu organisieren, so Görres, „zu mehr reicht es nicht.“
Die Unternehmen sind ebenfalls gefordert
Görres sieht für eine umfassende Lösung denn auch die Unternehmen in der Pflicht. „Natürlich kann man die Versorgung von Kindern und Pflegebedürftigen nicht direkt vergleichen“, so Görres. „Aber die Betriebe müssen auf Dauer auch für Senioren Strukturmodelle anbieten. Wenn es eine Kita im Betrieb gibt – warum dann nicht auch eine Tagespflege für die pflegebedürftigen Eltern der Angestellten?“
Die Betriebe indessen halten ihr Engagement für ausreichend. „Da die Unternehmen Mitarbeiter mit pflegebedürftigen Angehörigen schon heute möglichst durch passgenaue und individuelle Regelungen unterstützen, ist kein neues bürokratisches Gesetz notwendig“, teilt die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) auf Anfrage mit. „Die Pläne für eine neue Familienpflegezeit werden zu unnötigen Belastungen der Betriebe führen.“
Görres ist denn auch pessimistisch, was das Engagement der Industrie angeht. Eine seiner Studentinnen hat 20.000 Betriebe in einem Bundesland durch die Handelskammer anfragen lassen, welche Teilzeitmodelle für pflegende Angehörige bekannt seien, berichtet er. „Genau drei Betriebe haben geantwortet.“
REFERENZEN:
1. Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung3/Pdf-Anlagen/2014-10-15-gesetz__familienpflegezeit,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf
2. Pressemitteilung des Bundesarbeits- und Bundesfamilienministeriums, 15. 10. 2014: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Presse/pressemitteilungen,did=210236.html
3. BARMER Pflegereport 2013 (S.100 f): http://presse.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/Subportal/Presseinformationen/Archiv/2013/131218-Pflegereport/PDF-Pflegereport-2013,property=Data.pdf
Diesen Artikel so zitieren: Pflegende Angehörige: Auszeit und Lohnersatz – oder doch lieber den „Betriebspflegeplatz“? - Medscape - 21. Okt 2014.
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