München – Angesichts der Einführung neuer Medikamente sowie Fortschritten bei der Therapie und Diagnostik der Multiplen Sklerose haben die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) die Leitlinien für die Behandlung der Nervenkrankheit aktualisiert. Die Neuerungen präsentierte in München auf der Neurowoche 2014 Prof. Dr. Ralf Gold, Koordinator der Leitliniengruppe und Vorstandsmitglied beider Vereinigungen.

Laut Gold hat die Europäische Zulassungsbehörde (EMA) in letzter Zeit auf dem Gebiet der MS-Therapie mehrfach Zulassungen erteilt, die er als „etwas locker“ erachtet. Hier gelte es, darauf zu achten, dass solche Entscheidungen unabhängig von „anderen Faktoren“ getroffen würden. Was damit gemeint ist, präzisierte der designierte erste Vorsitzende der DGN folgendermaßen: „Wir wollen Abstand zur pharmazeutischen Industrie bewahren und uns nicht vereinnahmen lassen.“ Die neuen Leitlinien seien dafür beispielhaft, weil ohne jegliche Firmeneinflüsse zustande gekommen. „Alle Beteiligten haben ehrenamtlich gearbeitet, alles wurde privat finanziert – bis hin zur Druckerschwärze der Leitlinien.“
Neue Medikamente bewertet
Unter den 3 neuen Medikamenten, die im Jahr 2013 neu auf den Markt kamen, war die Einschätzung von Nutzen und Risiko besonders bei Alemtuzumab sehr aufwendig. Dieser hochwirksame monoklonale Antikörper greift tief und nachhaltig in das Immunsystem ein, erinnerte Gold. „Dies macht Nachuntersuchungen über vier Jahre hinweg notwendig.“ Etwa 2% der Patienten entwickelten schwerwiegende Autoimmunitätssymptome.
Da eine individuelle Vorhersage dieses Risikos bisher nicht möglich ist, fordert die Leitlinie Kontrollen von Blutbild und Nierenfunktion im 4-Wochen-Rhythmus. „Alemtuzumab ist nur für Patienten mit hochaktivem Verlauf geeignet und dort hoch dosiertem Interferon-beta überlegen.“ Für Patienten mit einer schleichenden MS sei das Präparat nicht geeignet, so Gold.
wurde privat finanziert – bis hin zur Druckerschwärze der Leitlinien.“
Die anderen beiden neu zugelassenen Medikamente Dimethylfumarat und Teriflunomid sind weniger schwierig in der Anwendung, da deren Sicherheitsprofile durch die Vorgängersubstanzen bereits relativ gut bekannt sind. „Dimethylfumarat ist ein ganz einfacher Wirkstoff, der auch vom Körper selbst gebildet wird. Man kann deshalb guten Gewissens sagen, dass es unbedenklich ist“, sagte der Neurologe. „Zu Therapiebeginn ist allerdings mit gastrointestinalen Unverträglichkeiten und Flush-Phänomenen zu rechnen“, schränkte Gold ein. Auch Kontrollen des Blutbildes sind erforderlich, obwohl es gute Langzeitdaten mit dem Vorläuferpräparat Fumaderm gegen Psoriasis gibt.
Teriflunomid wird in den aktualisierten Leitlinien als orales Basistherapeutikum mit gutem Langzeitprofil dargestellt. Es bietet hohe Adhärenz und gute Verträglichkeit. Zu den Nachteilen zählen die lange enterohepatische Rezirkulation, reversible Haarwachstumsstörungen bei etwa 20% der Patienten und die potenzielle Teratogenität.
nur für Patienten mit hochaktivem Verlauf geeignet und dort hoch dosiertem Interferon-beta überlegen.“
Zusammen mit dem im Juli zugelassenen PEG-Interferon haben die Experten die neuen Präparate in dem Stufentherapieschema der MS eingefügt [2]. Statt Basis- und Eskalationstherapie unterscheidet man dort nun zwischen milden/moderaten Verlaufsformen und (hoch)aktiven Verlaufsformen. Damit trage man regulatorischen Entscheidungen Rechnung, die schon frühzeitig die Einstellung auf oder Umstellung innerhalb der Immuntherapeutika im Sinne der Therapieoptimierung ermöglichen, so Gold.
Neue Erkenntnisse zu bekannten Medikamenten berücksichtigt
Unterdessen ist die Datenbasis zur Sicherheit von Fingolimod weiter gewachsen. Bei einer Phase 3b-Studie seien die etablierten kardialen Sicherheitsvorkehrungen bei der erstmaligen Gabe bestätigt worden, berichtete Gold. „Soweit momentan beurteilbar, führt die Behandlung mit Fingolimod nicht zu wesentlichen Immunkompetenzproblemen oder der Entwicklung von Neoplasien“, erläuterte der MS-Spezialist angesichts von nunmehr über 200.000 Patientenjahren mit diesem Präparat.
Bei der Therapie der Neuromyelitis optica gilt mittlerweile Rituximab als Präparat der ersten Wahl. Von der Gabe MS-spezifischer Therapeutika wird dagegen abgeraten, da hierunter Verschlechterungen beobachtet wurden.
Detailliertere Angaben zu den neuen Präparaten sind den Qualitätshandbüchern des KKNMS zu entnehmen. Sie sind für das Fachpublikum erhältlich über dessen Sekretariat unter sekretariat@kkn-ms.de.
Zum jetzigen Zeitpunkt könne man noch nicht allen Patienten raten, auf die neuen oralen Präparate umzusteigen, weil es keine Studien dazu gibt. „Noch kann niemand sagen, ob individuelle Patienten mit einem älteren Präparat nicht doch besser fahren.“ Die nächste Aktualisierung der Leitlinien sei für das Jahr 2016 zu erwarten, kündigte Gold an.