Leipzig – Geschlechtsspezifische Unterschiede werden in der Gastroenterologie kaum thematisiert – es gibt wenig Literatur dazu. „Doch es gibt zum Teil immense Unterschiede, beim Reizdarmsyndrom etwa “, betonte Prof. Dr. Karen Nieber, Institut für Pharmazie der Universität Leipzig auf dem Kongress Viszeralmedizin 2014 [1]. „Und die betreffen nicht nur die Prävalenz, sondern auch die medikamentöse Therapie.“
an die Proteine des Blutplasmas und des Gewebes und damit auf den zeitlichen Verlauf der Wirkstoff-
konzentrationen.“
Vor allem Frauen von Reizdarm betroffen
Bislang gebe es selbst zur Prävalenz des Reizdarmsyndroms (RDS) nur sehr wenige Daten, monierte Nieber. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2012 genügt nun erstmals den Rom-III-Diagnosekriterien für RDS und zeigt mit 15% eine deutlich höhere Prävalenz als bisherige Schätzungen. Bekannt sei, dass in der zweiten und dritten Lebensdekade doppelt so viele Frauen wie Männer unter dem Syndrom leiden. Es müsse allerdings berücksichtigt werden, so Nieber, dass nur ein Viertel aller Menschen mit Symptomen den Arzt aufsucht. Und von diesen wiederum werden nur 30% zum Gastroenterologen weitergeleitet. „Bei denjenigen, die den Facharzt aufsuchen, liegt das Geschlechterverhältnis bei 4:1 zulasten der Frauen”, hob Nieber hervor.
Als Ursachen werden der Einfluss der Geschlechtshormone auf die Darmpassagezeit, aber auch Unterschiede in molekularen und zellbiologischen Mechanismen wie dem Serotonin-Metabolismus diskutiert. Auch kann der Menstruationszyklus die Symptome beeinflussen und nicht zuletzt haben Frauen einen anderen Umgang mit Körpersymptomen und Krankheit, so dass sie eher als Männer bereit sind, den Arzt aufzusuchen. Auch psychosoziale Faktoren und die Psyche, die über die sogenannte Darm-Hirn-Achse Motilitätsstörungen und viszerale Hypersensibilität hervorrufen kann, könnten genderspezifische Unterschiede begründen.
Unterschiede in der Wirkung der Medikamente
Die Behandlung des RDS ruht auf 3 Säulen: allgemeine Maßnahmen wie Änderungen der Ernährung und des Stressverhaltens, medikamentöse Therapie sowie eine psychosomatische Behandlung, gegebenenfalls mit einer Psychotherapie. „Die Medikamente werden symptomorientiert und nach ihrer Verträglichkeit ausgewählt“, erläuterte Nieber, „denn eine Heilung der RDS ist nicht möglich, es geht um Symptomlinderung.“ Bei leichteren Symptomen wird mit Antispasmolytika, Antidiarrhoika sowie Serotoninrezeptor-Agonisten und -Antagonisten auf das enterische Nervensystem (ENS) eingewirkt. Bei schweren bis mittleren Beschwerden kommen auf das Zentralnervensystem wirkende Antidepressiva zum Einsatz.
Bei einigen dieser gegen RDS eingesetzten Medikamente wurden geschlechtsspezifisch unterschiedliche Wirkungen beobachtet. „Für den Genderaspekt ist vor allem die Pharmakokinetik von Bedeutung“, berichtete Nieber. „Sexualhormone haben einen wichtigen Einfluss auf das Bindungsverhalten der Arzneimittel an die Proteine des Blutplasmas und des Gewebes und damit auf den zeitlichen Verlauf der Wirkstoffkonzentrationen.”
Die Konzentrationen von Cytochromen P 450 (CYP), also körpereigenen Enzymen, die bei der Verstoffwechselung pharmazeutischer Wirkstoffe entscheidend mitwirken, sind in den beiden Geschlechtern unterschiedlich. „Über das auch im Intestinaltrakt vorkommende Cytochrom P450 3A4 werden rund 70 Prozent aller Arzneimittel abgebaut“, berichtete Nieber. „Bei Frauen ist der CYP3A4-Spiegel um 30 bis 50 Prozent höher als bei Männern.“
Klinische Studien haben gezeigt, dass lipohile Stoffe in Frauen länger wirken als in Männern, was unter anderem bei Benzodiazepinen während der Narkose berücksichtigt werden muss. Frauen erreichen zudem höheren Blutspiegel von hydrophilen Stoffen wie beispielsweise Fluorchinolonen, die als Antibiotika eingesetzten werden.
Diese Unterschiede haben auch Folgen für die medikamentöse Behandlung des Reizdarmsyndroms. „Zwar haben Antispasmolytika wie Scopolamin und Mebeverin sowie das Antidiarrhoikum Loperamid keinen geschlechtsspezifischen Einfluss“, erklärt Nieber. Deutliche Unterschiede gibt es aber bei den Serotoninrezeptor-Agonisten, die bei Frauen offensichtlich besser wirkten, so zum Beispiel Tegaserod und das bei chronischer Verstopfung nur bei Frauen zugelassene Prucaloprid. „Bei den klinischen Studien nehmen allerdings oft zu wenige Männer teil“, schränkte die Pharmakologin ein.
Effektiver bei Frauen scheint auch das Prostaglandin Lubiproston zu sein, das zur Behandlung von mit Verstopfung verbundenem RDS (RDS-O) zugelassen ist. Auch hier war die Anzahl der Männer in der Studie jedoch nicht hoch genug.
Für den Serotoninrezeptor-Antagonisten Alosetron gab es bislang nur eine Untersuchung mit Frauen, die jünger als 55 Jahre alt waren. „Es gibt neue Untersuchungen für alle Altersklassen und auch für Männer, doch die Daten sind noch nicht publiziert“, berichtete Nieber, so dass sich die Zulassung derzeit noch auf die untersuchte Gruppe beschränkt. Da der Wirkstoff jedoch schwere gastrointestinale Nebenwirkungen verursachen kann, sollte dieses Medikament nur unter Beobachtung eingenommen werden.
Zu den Antidepressiva Amitriptylin und Paroxetin gäbe es auch neuere Studien, so Nieber, und die zeigten, dass sie nur wirksam sind bei Frauen, die gleichzeitig Angststörungen oder depressive Verstimmungen haben. Sie sollten daher nur in diesen Fällen oder als Begleitmedikation in zweiter Linie verschrieben werden, wenn Verstopfungen auftreten.
Insgesamt also ist die Studienlage noch sehr unbefriedigend und weitere Untersuchungen mit der Einbeziehung von mehr Männern sind notwendig, um konkretere Aussagen treffen zu können.
Keine genderspezifischen Unterschiede bei pflanzlichen Arzneimitteln
nicht zu spät zum Gastroenterologen schicken.“
Alternativ lassen sich Phytopharmaka zur medikamentösen Therapie des RDS einsetzen, von denen es eine ganze Reihe gibt, wenn sie auch kaum in klinischen Studien untersucht wurden. „Bei uns gibt es genau eines, das STW 5, für das eine Multicenterstudie zur Effektivität bei RDS vorliegt. In China ist das ganz anders, dort gibt es 60 pflanzliche Mittel gegen RDS, die in klinischen Studien untersucht wurden.“
Das STW 5, bekannt als Iberogast®, ist ein Gemisch aus 9 Pflanzenextrakten. Metaanalysen gibt es auch für das Pfefferminzöl, dem ebenfalls eine Wirkung bei RDS bescheinigt wird. „STW5 wird als Phytopharmakon auch in den S3-Leitlinien empfohlen, ebenso wie Pfefferminzöl. Sonstige pflanzliche Mittel und Kräutermischungen sind bei RDS-O nicht effektiv und sollten deswegen auch nicht verwendet werden“, warnt Nieber. „Geschlechtsspezifische Unterschiede wurden bei Phytopharmaka noch nicht ausgewertet, sind aber auch nicht zu erwarten, da sie in der Regel aus einem komplexen Gemisch verschiedener Inhaltsstoffe bestehen und an mehreren Targets angreifen.“
Insgesamt also, so das Fazit von Nieber, müsse noch viel Forschung betrieben werden, bis der Genderaspekt genauer definiert werden kann. „Es fehlen zum Teil noch die Grundlagen in der Arzneimittel- und in der Versorgungsforschung, um konkrete Empfehlungen aussprechen zu können. Und in den klinischen Studien müssen Männer und Frauen gleichermaßen berücksichtigt werden.“ Wenn Unsicherheit herrscht, können jedoch zumindest in eingen Fällen Phytotherapeutika eine Alternative darstellen.
Unabhängig vom Genderaspekt scheinen allerdings die S3-Leitlinien zum Reizdarmsyndrom noch nicht bei allen Allgemeinmedizinern angekommen zu sein“, beklagte Nieber. „Wichtig ist, neben der leitliniengerechten, dreisäuligen Therapie und der genderspezifischen medikamentösen Behandlung, dass Allgemeinmediziner die Betroffenen nicht zu spät zum Gastroenterologen schicken.”