Zu kurz gedacht: Antidepressiva werden viel zu früh abgesetzt, vor allem vom Hausarzt

Heike Dierbach | 6. Oktober 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Hamburg – Wenn eine Therapie mit Antidepressiva begonnen wird, sollte sie nach der aktuellen Leitlinie mindestens 4 bis 6 Monate dauern – nachdem die Symptome nachgelassen haben [1]. Doch in der Praxis ist das eher die Ausnahme, sowohl bei Hausärzten als auch bei Fachärzten. Das zeigt eine Untersuchung, die auf dem Panel „Versorgung & Epidemiologie – Depression in der ambulanten Versorgung“ auf dem Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin vorgestellt wurde [2].

Auch die regionale Qualität der Depressionsbehandlung schwankt: In 2 Landkreisen wurde einer weiteren Studie zufolge keiner der Patienten mit einer schweren Depression angemessen behandelt.

„Die Evidenz
besagt … , dass
man über die akute Symptomatik hinaus Medikamente geben sollte.“
Dr. Antje Freytag

Einer der Qualitätsindikatoren bei der Depressionsbehandlung ist laut Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (AQUA) die „ausreichende Dauer der antidepressiven Pharmakotherapie nach Remission“ [3]. „Das gilt unabhängig vom Schweregrad der Depression“, sagt Dr. Antje Freytag vom Institut für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Jena. Sie hat gemeinsam mit Kollegen der Universität Ulm und des Bezirkskrankenhauses Augsburg überprüft, inwiefern dieses Kriterium in der Praxis eingehalten wird.

Weniger als jede dritte Pharmakotherapie ist ausreichend lang

Grundlage waren die ambulanten ärztlichen und Arzneimitteldaten aller AOK-Versicherten zwischen 2008 bis 2010. Analysiert wurden die Diagnosen „Depressive Episode“ und „Rezidivierende depressive Störung“ (F32 und F33 im ICD-10) mit einer neu begonnenen antidepressiven Therapie. „Als neu galt, wenn in den zwei vorangegangenen Quartalen keine Verordnung von Antidepressiva erfolgte“, sagt Freytag. Die Verordnungsdauer entsprach der Summe der Tagesdosen innerhalb von 180 Tagen. 45% der depressiven Patienten erhielten mindestens eine Verordnung, 50% davon nur von ihrem Hausarzt, 30% nur vom Facharzt.

Aber dauerten sie auch ausreichend lange? Ergebnis: Eher selten. Von den Hausarzt-Patienten wurden nur 16,8% für mindestens 24 Wochen behandelt, bei den Facharzt-Patienten waren es 27,5%. Die Regel ist also eher, dass die Antidepressiva-Behandlung zu früh abgebrochen wird.

„Werden Depressionen
nicht angemessen behandelt, können
sie chronisch werden. Noch gravierender
ist die Gefahr von Suizid bei schweren Depressionen.“
Prof. Dr. Martin Härter

Wie kommt es zu dieser starken Abweichung von der Leitlinie? „Ein Grund könnten die Nebenwirkungen sein“, sagt Freytag, „es ist bekannt, dass es bei Antidepressiva oft Compliance-Probleme gibt.“ Möglicherweise werden die Medikamente auch nur übergangsweise verordnet, bis der Patient einen Psychotherapieplatz gefunden hat. Oder der Patient setzt die Mittel ab, wenn es ihm besser geht. Freytag plädiert aber dafür, die Leitlinie in jedem Fall einzuhalten: „Die Evidenz besagt nun mal, dass man über die akute Symptomatik hinaus Medikamente geben sollte.“

Die Behandlungsqualität bei Depressionen schwankt nicht nur von Arzt zu Arzt, sondern auch regional. Das zeigt der „Faktencheck Gesundheit“, den Prof. Dr. Martin Härter, Direktor des Instituts und Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf, gemeinsam Dr. Hanne Melchior und Kollegen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt hat [4].

In zwei Kreisen wurde keiner der schwer Depressiven angemessen behandelt

Grundlage waren die Daten von rund 7 Millionen Versicherten von über 80 gesetzlichen Krankenkassen aus den Jahren 2008 bis 2012. Die regionale Erhebung erfolgte auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte, nach Wohnort des Versicherten. Geprüft wurde unter anderem, ob die Therapie der Leitlinie entsprach, unter Berücksichtigung des Grads der Depression. Eine schwere Depression etwa sollte mit einer Kombination aus Psychotherapie und Psychopharmaka behandelt werden.

Die Hälfte aller Diagnosen wurde allerdings unspezifisch gestellt. „Das ist sicher eines der Qualitätsprobleme“, sagt Härter. Vor allem Hausärzte verzichteten auf die Angabe des Schweregrads. Noch dürftiger sieht es bei der Therapie aus: Von den schweren Depressionen wurden bundesweit nur 28% angemessen behandelt, also mit einer Kombinationstherapie oder stationär. 56% der Patienten erhielten nur Psychotherapie oder Psychopharmaka (meistens letzteres), 18% sogar überhaupt keine Behandlung.

„Die Ergebnisse sind alarmierend“, sagt Härter, „werden Depressionen nicht angemessen behandelt, können sie chronisch werden. Noch gravierender ist die Gefahr von Suizid bei schweren Depressionen." [5]

„Wir sehen
hier eine viel zu
große Variation der Versorgungsqualität.“
Prof. Dr. Martin Härter

Die Chance, als schwer Depressiver nach den Leitlinien behandelt zu werden, hängt auch vom Wohnort ab. Während in vielen Kreisen der Prozentsatz unter 10 lag, wurden in anderen über 35% angemessen versorgt. Schlusslicht sind die Kreise Kyffhäuser und Sömmerda (beide Thüringen) mit 0%, Spitzenreiter ist die kreisfreie Stadt Münster mit 39,8%. Von den Bundesländern schneiden Nordrhein-Westfalen (30%) und Hessen (29%) am besten ab, Sachsen-Anhalt (22%), Thüringen und das Saarland (beide 20%) am schlechtesten. „Wir sehen hier eine viel zu große Variation der Versorgungsqualität“, sagt Härter.

Eine Ursache ist sicher die unterschiedliche Dichte an Psychotherapeuten und Fachärzten: Wenn der Patient keinen Platz findet, kann er keine Psychotherapie machen. Während im Landkreis Mansfeld-Südharz nur 9 Therapeuten auf 100.000 Einwohner kommen, sind es in Heidelberg 165.

Aber die hohe Zahl an unspezifischen Diagnosen weist auch auf Defizite bei Ärzten hin. Härter fordert deshalb eine Weiterqualifikation und die Einführung von Versorgungsmodellen. „Wir brauchen auch mehr Forschung, um die Ursachen für die unzureichende Leitlinienorientierung zu ermitteln.“

Referenzen

Referenzen

  1. DGPPN: Kurzversion der Behandlungsleitlinie Affektive Erkrankungen
    http://www.dgppn.de/fileadmin/user_upload/_medien/download/pdf/kurzversion-leitlinien/s1-praxisleitlinien-bd5-affektiveerkrankungen.pdf
    Kongress der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) 18. bis 20. September 2014, Hamburg.
    Workshop „Versorgung & Epidemiologie - Depression in der ambulanten Versorgung“ am 20. September 2014
    http://www.degam2014.de/_contxt/programme/default_session.asp?node=&day=saturday&sessionID=72
  2. Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen: QSIA Band C6: Depression - Qualitätsindikatoren fu¨r die Versorgung von Patienten mit Depression.
    Melchior H et al.: Faktencheck Gesundheit.  2014
    http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-B9DB6780-59B51F03/bst/xcms_bst_dms_39547_39548_2.pdf
  3. Bertelsmann Stiftung: Volkskrankheit Depression: Drei von vier schwer Erkrankten werden nicht angemessen versorgt. 19. März 2014
    http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-73202590-DF7AE7B8/bst/hs.xsl/nachrichten_120516.htm

Autoren und Interessenkonflikte

Heike Dierbach
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Freytag A, Härter M, Melchior H: Es liegen keine Angaben zu Interessenkonflikten vor.

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