Eine seltene Erkrankung, aber welche? Spezialzentren bieten Unterstützung für Hausärzte

Heike Dierbach | 24. September 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Hamburg – Bei ihrem letzten Klinikaufenthalt hatte die Patientin 256 Blutkonserven verbraucht. Nun war sie wieder eingewiesen worden mit mehrmaligem Erbrechen, zunehmend mit Blut vermengt. Seit 4 Jahren hat sie eine Blutungsneigung sowie diverse Allergien und ist deshalb, mit 26 Jahren, berentet. Ein schwieriger Fall – und vermutlich eine seltene Erkrankung. Aber welche?

Auf dem Workshop „Differentialdiagnostik und Management seltener Erkrankungen“ auf dem Kongress für Allgemeinmedizin zeigten Experten, wie schwierig die Diagnose sein kann – und wo niedergelassene Ärzte Unterstützung finden [1].

Als selten gilt eine Krankheit in der Europäischen Union, wenn sie bei nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen auftritt [2]. Nach Schätzungen gibt es in Deutschland etwa 4 Millionen Menschen mit seltenen Erkrankungen. Insgesamt werden 7.000 bis 8.000 Erkrankungen als selten eingestuft.

Die Zahlen machen klar: Für den Hausarzt ist es eine große Herausforderung, seltene Erkrankungen zu erkennen und richtig zu behandeln. Ein Problem ist vor allem die Abgrenzung zu somatoformen Störungen, also körperlichen Beschwerden, die eine psychische Ursache haben.

Keime aus dem Mund am venösen Zugang?

Die 26-jährige Patientin war nach langer Odyssee in die Universitätsklinik Bonn aufgenommen worden. Trotz umfangreicher Untersuchungen, darunter 7 Koloskopien und 7 Magenspiegelungen, konnten die Ärzte keine Ursache für ihre Beschwerden finden, berichtete Dr. Martin Mücke vom Institut für Hausarztmedizin des Universitätsklinikums.

Auch ein psychosomatisches Konsil war unauffällig. Ungewöhnlich erschien den Ärzten aber, dass die Patienten bereits mit einem Port eingeliefert worden war und dass sie sich sehr oft nach ihrem Hämoglobinwert erkundigte. „Dieser war durch das häufige Erbrechen von Blut natürlich deutlich zu niedrig“, sagte Mücke.

Auf die richtige Spur kamen die Behandler schließlich mit Hilfe eines Fotos. Auf ihrem Smartphone hatte die junge Frau zahlreiche Selbstaufnahmen gespeichert, auf denen sie inmitten des erbrochenen Blutes zu sehen war. Sie verschickte diese offenbar an Freunde. Mücke fiel auf, dass auf einem Foto die Blutlache fast kreisrund war. „Das sah nicht aus, als ob dort wirklich jemand erbrochen hätte.“ Waren die Anfälle nur vorgetäuscht“

Münchhausen-Syndrom: Hilfe schwierig

Eine Keimuntersuchung am Port bestätigte den Verdacht: Am venösen Zugang fanden sich Staphylococcus epidermidis und Streptococcus salivarius – Keime, die vor allem in der Mundschleimhaut vorkommen. Die Patientin saugte offenbar das Blut selbst am Port mit dem Mund ab, um es dann auszuspucken. Damit war auch die Diagnose klar: „Münchhausen-Syndrom“, das Erfinden oder Selbsterzeugen einer Krankheit, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Die Ärzte entfernten den Port und konfrontierten die Patientin mit der Diagnose. Geholfen hat ihr das nicht wirklich: Sie entließ sich – typisch für Münchhausen-Patienten – umgehend selbst aus der Klinik. „Auf das Angebot, sich in der psychosomatischen Ambulanz vorzustellen, ist sie bis heute nicht eingegangen“, sagte Mücke.

Wie man solchen Patienten den Weg zur Behandlung besser ebnet, konnten auch die Experten nicht wirklich sagen. Eine Kollegin aus dem Publikum regte an, ihnen zunächst nur eine Beratung anzubieten, „damit sie mit der Erkrankung besser umgehen können“. Im Gespräch könnten dann nach und nach die psychischen Hintergründe beleuchtet werden.

Seltene Erkrankung oder somatoforme Störung?

Wie aufwändig die Unterscheidung zwischen einer psychischen Störung und einer tatsächlichen seltenen Erkrankung ist, schilderte auch Dr. Christiane Stieber vom Zentrum für Seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Bonn. Die Interdisziplinäre Kompetenzeinheit für Patienten ohne Diagnose (InterPoD) des Instituts startete 2013 einen Aufruf über die Apotheken-Umschau, um mehr Patienten mit seltenen Erkrankungen zu finden. Die Resonanz war gewaltig: „Ich hatte tagelang morgens um 6 den ersten Anruf und abends um 9 den letzten“, sagte Stieber.

InterPoD sortiert die Fälle nach einem genauen Schema: Nach einem ersten Kontakt sollten die Patienten einen Fragebogen ausfüllen, ihre Befunde in Kopie zuschicken und eine Epikrise, einen Bericht des bisherigen Behandlers, einholen. „Daran scheitert es meist schon“, so Stieber. Wenn der Arzt einen Brief mitschickt, enthält dieser sehr oft die Diagnose „Somatoforme Störung“. Geben aber Arztbrief und Befunde Anzeichen für eine seltene Erkrankung, beraten Fachärzte der Universitätsklinik gemeinsam über den Fall.

Zentren für seltene Erkrankungen besser bekannt machen

Zentren für seltene Erkrankungen gibt es bundesweit, doch vielen niedergelassenen Ärzten sind sie noch nicht bekannt. Teilnehmer des Workshops berichteten auch, dass der Kontakt schwierig sei: „Oft gibt es gar keinen Ansprechpartner“, sagte ein Hausarzt, „man landet bei irgendeiner Sekretärin.“ Ein anderer berichtete, er habe mehrfach Patienten an ein Zentrum verwiesen: „Da ist nie ein Bericht gekommen.“

Das soll besser werden, verspricht Stieber: Bis Ende des Jahres soll die Webseite http://www.se-atlas.de Patienten und Ärzte über die richtigen Anlaufstellen informieren. Sie ist Teil des Themenschwerpunkts „Seltene Erkrankungen“ des Bundesministeriums für Gesundheit.

Ein weiterer Baustein ist das Projekt DENIES (Diagnoseweg Seltener Erkrankungen in der Primärversorgung). Es soll erforschen, welche Faktoren den Weg eines Patienten vom Erstkontakt beim Arzt bis zum Fachzentrum und wieder zurück beeinflussen. Langfristig sollen diese Erkenntnisse helfen, eine schnellere Diagnose seltener Erkrankungen zu fördern.

Referenzen

Referenzen

  1. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, 18. bis 20. September 2014, Hamburg
    Workshop „Differentialdiagnostik und Management seltener Erkrankungen“ am 19. September 2014
    http://www.degam2014.de/_contxt/programme/default_session.asp?node=&day=friday&sessionID=17
  2. Bundesministeriums für Gesundheit: Seltene Erkrankungen
    http://www.bmg.bund.de/praevention/gesundheitsgefahren/seltene-erkrankungen.html

Autoren und Interessenkonflikte

Heike Dierbach
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Mücke M, Stieber C: Es liegen keine Angaben zu Interessenkonflikten vor.

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