Cave Benzodiazepine: Über lange Zeit eingenommen, steigt das Demenzrisiko

Ute Eppinger | 19. September 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Wenn Senioren über längere Zeit Benzodiazepine einnehmen, haben sie ein erhöhtes Risiko für Demenz. Auf diesen Zusammenhang weisen jetzt Autoren um Dr. Sophie Billioti de Gage von der Université Bordeaux Segalen in Bordeaux im British Medical Journal hin [1]. „Unsere Ergebnisse bestätigen die Ergebnisse früherer Studien“, konstatiert die Studienautorin. Die Einnahme von Benzodiazepinen über einen Zeitraum von 3 Monaten oder mehr ist mit einem bis zu 51% erhöhten Risiko assoziiert, Alzheimer zu entwickeln.

„Zwar ist die Verbindung noch nicht definitiv,
die deutliche Assoziation beim Langzeitgebrauch verstärkt aber den Verdacht eines möglichen direkten Zusammenhangs.“
Dr. Sophie Billioti de Gage und Kollegen

Bereits vor 2 Jahren hatten Billioti de Gage und Kollegen in einer Substudie der PAQUID-Studie nachgewiesen, dass ältere Patienten, die regelmäßig Benzodiazepine einnahmen, häufiger an einer Demenz erkrankten [2]. Eine Kausalität konnten die Autoren damals zwar nicht belegen, rieten jedoch zur Zurückhaltung bei der Verschreibung. 

Besteht doch ein direkter Zusammenhang?

Dass die Risiko-Assoziation unter längerer Einnahmedauer und mit lang wirkenden Benzodiazepinen stärker zunahm als unter kurzzeitig wirkenden Mitteln, werten die Forscher jetzt auch als möglichen Hinweis auf eine direkte Kausalität: „Zwar ist die Verbindung noch nicht definitiv, die deutliche Assoziation beim Langzeitgebrauch verstärkt aber den Verdacht eines möglichen direkten Zusammenhangs. Das ist auch dann der Fall, wenn der Benzodiazepin-Gebrauch ein früher Marker für einen Gesundheitszustand sein könnte, der selbst schon mit einem erhöhten Demenzrisiko assoziiert ist.“

Einen mehr als nur zufälligen Zusammenhang vermutet auch Prof. Dr. Richard Dodel, kommissarischer Leiter der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Marburg/Giessen: „Die Studie liefert weitere Anhaltspunkte dafür, dass Benzodiazepine auf den Erkrankungsverlauf der Demenz selbst Einfluss nehmen”, erklärt er gegenüber Medscape Deutschland. Sie könne das aufgrund ihres Designs zwar nicht definitiv beweisen, liefere aber Hinweise auf einen direkten Zusammenhang, so Dodel. Das wiederum biete einen guten Ausgangspunkt für weitere Studien, um den schließlich zu belegen.

„Die Studie
liefert weitere Anhaltspunkte
dafür, dass Benzodiazepine
auf den Erkrankungs-
verlauf der Demenz selbst Einfluss nehmen.“
Prof. Dr. Richard Dodel

Demenz betrifft gegenwärtig 36 Millionen Menschen weltweit. Erwartet wird, dass sich die Zahl alle 20 Jahre verdoppelt und bis 2050 115 Millionen erreichen wird. Die Forscher um Billioti de Gage suchten sowohl nach einer Verbindung zwischen dem Alzheimer-Risiko und der Benzodiazepin-Aufnahme über etliche Jahre, als auch nach einem potenziellen dosisabhängigen Zusammenhang.

Anhand der Daten des Quebec Health Insurance Programms (RAMQ) gingen sie der Entwicklung von Alzheimer bei einer Auswahl von älteren Bewohnern Quebecs nach, denen Benzodiazepine verschrieben worden waren. Über den Zeitraum der letzten 6 Jahre identifizierten sie 1.796 an Alzheimer Erkrankte. Sie verglichen jeden Fall mit 7.184 gesunden Kontrollprobanden, gematcht nach Alter, Geschlecht und Dauer des Follow ups.

Die Einnahme von Benzodiazepinen über einen Zeitraum von 3 Monaten oder mehr war mit einem erhöhten Risiko (bis zu 51%) assoziiert, Alzheimer zu entwickeln (Odds Ratio: 1,51; 95%-Konfidenzintervall: 1,36 bis 1,69). Die Stärke der Assoziation nahm mit längerer Einnahmedauer und unter lang wirkenden Benzodiazepinen stärker zu als unter kurzzeitig wirkenden. Weitere Angleichungen für Symptome, die den Beginn einer Demenz markieren können, wie Angst, Depressionen oder Schlafstörungen, veränderten die Ergebnisse nicht bedeutsam (OR: 1,43; 95%-KI:1,28–1,60).

Benzodiazepine sind unbestritten werkvolle Werkzeuge, aber ...

Benzodiazepine sind „unbestritten wertvolle Werkzeuge zum Management von Angsterkrankungen und vorübergehender Insomnie“, schreiben Billioti de Gage und Kollegen. Die Wissenschaftler betonen aber auch, dass die Therapie „nur von kurzer Dauer sein und 3 Monate nicht überschreiten sollte“. In der Akutversorgung seien Benzodiazepine unverzichtbare Arzneimittel, die rasch wirken und insgesamt gut verträglich sind, betont auch Dodel. „Bei epileptischen Anfällen und Angstzuständen beispielsweise werden Benzodiazepine eingesetzt.“

Auch bei Schlafstörungen könne man durchaus einen Versuch mit Benzodiazepinen machen, „über zwei oder drei Wochen, aber eben nicht über Monate oder gar Jahre“, stellt Dodel klar. Er berichtet von einem Patienten, der zunächst mit Benzodiazepin behandelt wurde. Ein älterer Mann wachte Nacht für Nacht um 2:30 Uhr immer schreiend auf.

Die ganze Familie konnte nicht mehr schlafen. Es stellte sich heraus, dass den Schlafstörungen starke Ängste zugrunde lagen – als Fünfjähriger hatte der Mann miterlebt, wie Nacht für Nacht Fliegerbomben auf seine Heimatstadt fielen. „Es gilt, die Ursachen zu finden, und die Therapie dann an den Zielsymptomen zu orientieren“, betont Dodel. „Bei einigen schweren Angstzuständen kommt man anfangs nicht ohne Benzodiazepine aus“, erklärt Dodel.

Weniger Benzodiazepin-Verordnungen? Schön wär´s …

Dass inzwischen deutlich weniger Benzodiazepine als noch vor einigen Jahren verordnet werden, kann Dodel nicht bestätigen. Gerd Glaeske, Autor des Arzneimittel-Verordnungsreports 2013 der BARMER GEK schätzt, dass in Deutschland 1,2 Millionen Menschen von Benzodizepin-haltigen Mitteln abhängig sind, die als Tranquilizer und Schlafmittel verordnet werden [3]. Betroffen, so Glaeske, sind vor allem ältere Menschen, darunter 2 Drittel Frauen. Ein großer Anteil dieser Mittel – Glaeske schätzt ein Drittel bis die Hälfte – werde nicht wegen akut medizinischer Probleme, sondern langfristig zur Suchterhaltung und zur Vermeidung von Entzugserscheinungen verordnet.

Auf Langzeittherapien mit Benzodiazepinen zur Behandlung von Schlafstörungen solle im Allgemeinen verzichtet werden, betont Dodel und hebt das starke Abhängigkeitspotenzial der Substanzen hervor: „Ich hatte jetzt zwei ältere Patienten in Behandlung, eine nimmt seit zehn Jahren, die andere seit 14 Jahren Benzodiazepin-haltige Mittel, und das jeden Abend. Da entsteht eine schwere Abhängigkeit, die Entwöhnung von den Medikamenten ist sehr schwierig.“
Denn schon nach 6 Wochen besteht Abhängigkeitsgefahr.

Hilft ein formales Monitoring?

In einem begleitenden Editorial zur Studie heben Prof. Dr. Kristine Yaffe von der Universität of California in San Francisco und Prof. Dr. Malaz Boustani vom Indiana University Center for Aging Research hervor, dass die American Geriatrics Society 2012 ihre Liste der unangebrachten Arzneimittel für ältere Patienten um die Benzodiazepine erweitert hat, gerade wegen ihrer unerwünschten kognitiven Nebenwirkungen. Dennoch nähmen – folge man der Studie – 50% der älteren Menschen diese Arzneimittel ein. Yaffee und Boustani fürchten, dass ohne ein formales Monitoring-System die potenziellen Langzeit-Konsequenzen von Benzodiazepinen auf die Hirngesundheit übersehen und stattdessen der wachsenden Prävalenz kognitiver Beeinträchtigungen unter älteren Menschen zugeschrieben werden.

„Legt man die wachsende Zahl von Älteren zugrunde, die mit etlichen Medikamenten gleichzeitig behandelt werden, und schaut man sich das Risiko derjenigen an, an Alzheimer zu erkranken, sollte diese Lücke unbedingt geschlossen werden“, fordert Yaffe.

Ihre Ergebnisse stufen Billioti de Gage und Kollegen als von „großer Wichtigkeit für die öffentliche Gesundheit“ ein. „Das gilt besonders im Hinblick auf die Prävalenz und die Konsistenz, mit der Benzodiazepine bei älteren Menschen angewandt werden und der hohen und steigenden Inzidenz von Demenz in den Industrieländern.“

Es sei nun entscheidend, Ärzte zu ermutigen, sorgfältig Nutzen und Risiken abzuwägen, wenn eine Therapie mit Benzodiazepinen und ähnlichen Produkten bei älteren Patienten begonnen oder wieder aufgenommen werde.

Referenzen

Referenzen

  1. Billioti de Gage S, et al: BMJ 2014;349:g5205
    http://dx.doi.org/10.1136/bmj.g5205
  2. Billioti de Gage S, et al: BMJ 2012;345:e6231
    http://dx.doi.org/10.1136/bmj.e6231
  3. Glaeske G, et al: BARMER GEK Arzneimittelreport 2013. Auswertungsergebnisse der BARMER GEK Arzneimitteldaten aus den Jahren 2011 bis 2012, Juni 2013
    http://presse.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/Subportal/Presseinformationen/Archiv/2013/130611-Arzneimittelreport/PDF-Arzneimittelreport-2013,property=Data.pdf
  4. Yaffe K, et al: BMJ 2014;349:g5312
    http://dx.doi.org/10.1136/bmj.g5312

Autoren und Interessenkonflikte

Ute Eppinger
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Billioti de Gage S: Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Dodel R: Es liegen keine Angaben zu Interessenkonflikten vor.

Yaffe K: Honorare von Takeda, Novartis und Pfizer

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