Wien – 2 Fragen: Brauchen wir die GLP-basierten Therapien beim Typ-2-Diabetes? Und: Sind die Nebenwirkungen dieser Therapien ein Grund zur Besorgnis? 2 Vorträge, die diese Fragen beantworten sollten. Und 2 sehr unterschiedliche Folgerungen der Referenten, die beide weltweit zu den Top-Experten auf diesem Gebiet zählen. Dies war das Ergebnis des EASD/ADA-Symposiums zu Inkretin-basierten Therapien beim europäischen Diabeteskongress in Wien [1].

„Die Vorzüge der Inkretin-basierten Therapien überwiegen die potenziellen Risiken bei weitem“, so das Fazit von Prof. Dr. Baptist Gallwitz, Medizinische Klinik des Universitätsklinikums Tübingen, der sich in seinem Vortrag mit den Nebenwirkungen dieser Behandlungen beschäftigte. Die möglichen Risiken der neuen Antidiabetika – er diskutierte Pankreatitis und Pankreaskrebs, C-Zellproliferation und mögliche ungünstige kardiovaskuläre Wirkungen – seien gegen die älteren Antidiabetika mit ihren ebenfalls bekannten Risiken und Nebenwirkungen abzuwägen, so seine Argumentation. Vorzüge der neuen Therapien sind dabei vor allem günstige Effekte auf das Körpergewicht – neutral bei den DPP-4-Hemmern (Dipeptidylpeptidase 4) und eine Gewichtsreduktion bei den GLP-1-Agonisten (Glucagon-like peptide 1) – und das geringere Hypoglykämie-Risiko.
Die neuen Medikamente als Kostentreiber
So wirklich überzeugt von diesen Vorzügen zeigte sich allerdings der US-Diabetologe Prof. Dr. David M. Nathan, Diabetes Center, Massachusetts General Hospital, Boston, USA, nicht. „Sowohl die Diabetesepidemie als auch die neuen Antidiabetika sind gekommen, um zu bleiben“, sagte Nathan in seinem Symposiumsvortrag. Doch die neuen Medikamente trieben vor allem die Kosten für die Behandlung nach oben, wandte er gegenüber Medscape Deutschland ein. Die DPP-4-Hemmer haben nach seinen Angaben im Jahr 2013 einen weltweiten Umsatz von rund 8,5 Milliarden US-Dollar (6,6 Milliarden Euro) gemacht und damit bereits die Umsätze von Insulin glargin (über 7 Milliarden US-Dollar weltweit) übertroffen. Zusätzlich haben die Pharmafirmen mit den GLP-1-Agonisten 2013 einen globalen Umsatz von rund 3 Milliarden US-Dollars (2,3 Milliarden Euro) erwirtschaftet.
Diese Kosten seien z.B. bei den DPP-4-Hemmern in Relation zu setzen zu einer „eher moderaten HbA1c-Senkung“, sagte Nathan. „Eine Senkung um 0,6 bis 0,7 Prozentpunkte in den Studien würde ich nicht als stark bezeichnen.“ Und auch der „added value“ mit Gewichtsneutralität oder einer „bescheidenen“ Gewichtsabnahme unter den GLP-1-Rezeptor-Agonisten sowie das niedrige Hypoglykämierisiko unter der Therapie möchte der US-Diabetologe nicht allzu hoch bewerten. „Wir sollten das Hypoglykämierisiko bei Patienten mit Typ-2-Diabetes nicht dramatisieren“, sagte er gegenüber Medscape Deutschland. Es betrage nur einen Bruchteil des Risikos von Typ-1-Diabetespatienten. Und auch die gastrointestinalen Nebenwirkungen und die noch limitierten Daten zu den neuen Behandlungsmöglichkeiten seien zu berücksichtigen.
Zu fast allen neuen Medikamenten fehlen noch Endpunktstudien. Und es mangelt an direkten Vergleichsstudien, die Anhaltspunkte für eine laut Leitlinien geforderte individualisierte Therapie liefern, gab Nathan zu bedenken. Er erinnerte daran, dass die Blutzuckersenkung beim Typ-2-Diabetes nur ein Surrogat-Endpunkt ist, auf den man sich allgemein geeinigt habe. „Aber natürlich senken wir den Blutzucker, um im Endeffekt vor allem die kardiovaskuläre Ereignisrate – immer noch die Hauptmorbiditäts- und Mortalitätsursache bei diesen Patienten – zu reduzieren!“
GLP-1-Agonisten: Starke Blutzuckersenkung, doch „erhebliche“ Nebenwirkungen
Typ-2-Diabetes nicht dramatisieren.“
In punkto Blutzuckersenkung sind die GLP-1-Rezeptoragonisten die bislang stärksten Antidiabetika. HbA1c-Senkungen zwischen 2 und 3 Prozentpunkten sind laut Studiendaten damit möglich. Gleichzeitig nimmt das Körpergewicht um 2 bis 2,5 kg im Schnitt ab. „Doch die gastrointestinalen Nebenwirkungen der Therapie sind erheblich“, sagte Nathan, „und nicht immer sind sie vorübergehend“. Bei rund 15% der Patienten sei nach den Studiendaten mit beträchtlichen Magen-Darmbeschwerden zu rechnen.
Gallwitz verwies noch auf eine weitere Nebenwirkung. So steigt auch die Herzfrequenz unter den GLP-1-Rezeptoragonisten an – im Schnitt um etwa 2 bis 5 Schläge pro Minute. Unklar sei derzeit noch der Mechanismus. Diskutiert werde, dass die Pulserhöhung mit der Wirkdauer des GLP-1-Agonisten assoziiert sein könnte, da sie etwas ausgeprägter zu sein scheint unter Liraglutid als unter den kürzer wirkenden Exenatid und Lixisenatid. Ob die Steigerung der Herzfrequenz sich prognostisch ungünstig auswirkt, müssen die laufenden kardiovaskulären Endpunktstudien zeigen, so Gallwitz.
Die meist diskutierte Nebenwirkungen der Inkretin-basierten Behandlungen sind jedoch die Pankreatitis sowie das Pankreaskrebsrisiko. Die beiden Arzneimittelbehörden FDA und EMA haben dazu bislang kein abschließendes Urteil abgegeben, erinnerte Gallwitz. Betonen aber beide, dass es bislang keine Daten gebe, die es rechtfertigten, von GLP-basierten Therapien abzuraten.
Leicht erhöhtes Pankreatitis-Risiko in einigen Studien
Ein leicht erhöhtes Risiko für Pankreatitis findet sich jedoch immer wieder in den klinischen Studien. So z.B. auch in der großen kardiovaskulären Endpunktstudie SAVOR-TIMI 53, die den DPP-4-Hemmer Saxagliptin gegen Placebo bei mehr als 16.000 Patienten geprüft hat. Doch war die Risikoerhöhung nicht signifikant und könnte auch auf eine ungleiche Verteilung der entsprechenden Risikofaktoren zurückzuführen sein, informierte Gallwitz. Insgesamt seien die Daten dazu inkonsistent.
Die deutschen Inkretin-Spezialisten Prof. Dr. Michael Nauck, Diabeteszentrum Bad Lauterberg, und Prof. Dr. Juris Meier, Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum, haben eine gepoolte Analyse dazu erstellt. Das vor kurzem publizierte Ergebnis [2]: Bei den GLP-1-Agonisten stehen 38 Pankreatitisfälle in 17.775 Expositionsjahren in den klinischen Studien insgesamt 9 Fällen bei 5.863 Expositionsjahren der Vergleichssubstanzen gegenüber.
dass man rund 2.000 Jahre behandeln müsste, um einen zusätzlichen Fall
an Pankreatitis
zu sehen.“
Die beiden Forscher errechneten daraus eine Rate von 2,1 versus 1,5 jeweils pro 1.000 Patientenjahre und eine – nicht signifikante – Risikoerhöhung um 39%. Gallwitz: „Eine solche Risikoerhöhung würde bedeuten, dass man rund 2.000 Jahre behandeln müsste, um einen zusätzlichen Fall an Pankreatitis zu sehen.“ Für DPP-4-Hemmer fanden Nauck und Meier ein Verhältnis von 1,3 zu 1,2 Pankreatitis-Fällen pro 1.000 Patientenjahre – und damit kein Signal für ein erhöhtes Risiko.
Allerdings wurde beim EASD-Kongress auch ein Poster präsentiert, in dem Sicherheitsdaten zu Liraglutid in der SCALE-Studie vorgestellt wurden [3]. SCALE war eine Studie zur Gewichtsabnahme, in der Menschen mit Übergewicht oder Adipositas, aber ohne Diabetes, Liraglutid – auftitriert bis zu einer Dosis von 3,0 mg – erhalten hatten. Während unter Liraglutid 8 Pankreatitisfälle bei knapp 2.500 Behandelten auftraten, gab es in der Placebogruppe mit rund 1250 Teilnehmern nur einen Fall von Pankreatitis.
Die DPP-4-Hemmer: Diskussionen um das Herzinsuffizienz-Risiko
Die DPP-4-Hemmer gelten aufgrund der bisherigen Studiendaten als gut verträglich. Nathan wies in Wien jedoch darauf hin, dass das Enzym DPP-4, das diese Wirkstoffe hemmen, noch zahlreiche andere Substrate außer GLP-1 hat. So sei auch noch unklar, ob DPP-4-Hemmer vielleicht noch weitere Effekte im Immunsystem haben, räumte Gallwitz ein. Wie er auf Nachfrage aus dem Auditorium sagte, sieht er derzeit aber keinen Grund, etwa von einer Behandlung von Patienten mit zusätzlichen Autoimmunerkrankungen abzusehen. „Wir behandeln auch unsere Patienten mit Hashimoto-Thyreoiditis damit.“
Als überraschende Nebenwirkung hatte sich in der SAVOR-TIMI-53-Studie eine erhöhte Rate an Krankenhauseinweisungen wegen Herzinsuffizienz ergeben (3,5% unter Saxagliptin versus 2,8% unter Placebo, HR: 1,27; 95%-KI: 1,07–1,51, p = 0,007). Auch das natriuretische Peptid BNP, das bei Herzinsuffizienz erhöht ist, sei ein Substrat von DPP-4, erläuterte Gallwitz im Gespräch mit Medscape Deutschland. Doch ob ein möglicher Zusammenhang darüber vermittelt sein könnte, sei unklar. Es gibt auch Spekulationen, dass eine Zusatztherapie mit Insulin bzw. Sulfonylharnstoffen bei manchen Saxagliptin-Patienten eine Flüssigkeitsretention verursacht haben könnte.
Wir würden sicher auch ohne sie überleben, aber wir würden vielleicht
ein bisschen nass werden.“
Wie ernst ist das mögliche erhöhte Risiko unter Saxagliptin zu nehmen? Gallwitz sieht nicht unbedingt Grund zur Besorgnis. Er erinnert gegenüber Medscape Deutschland an das Gesamtergebnis von SAVOR-TIMI-53: Im primären Studienendpunkt – kardiovaskulärer Tod, Schlaganfall oder Herzinfarkt – seien die Raten mit einer Hazard Ratio von 1,0 unter Saxagliptin und Placebo absolut identisch gewesen, betont er. Er habe selbst dann keine Bedenken, einen Patienten mit Saxagliptin zu behandeln, wenn dieser bereits eine linksventrikuläre Dysfunktion habe: „Gerade wenn zusätzlich noch eine eingeschränkte Nierenfunktion besteht, haben wir nicht allzu viele Alternativen.“ Und Insulin sowie Sulfonylharnstoffe seien bei diesen Patienten ebenfalls kritisch zu sehen.
Die gleichen Daten – 2 Experten – 2 Meinungen. Und so lautete Nathans Antwort auf die Frage seines Vortrags „Brauchen wir die GLP-basierten Therapien?“ schließlich: „Das ist wie die Frage, ob wir Regenschirme im Regen benötigen. Wir würden sicher auch ohne sie überleben, aber wir würden vielleicht ein bisschen nass werden.“