
„Mein Kind ist doch nicht zu dick!“ So denken viele Eltern, die auf ihre pummligen Kinder angesprochen werden. Ist es die sprichwörtlich blind machende Liebe, die Mütter und Väter zu solch einem Fehlurteil kommen lässt? „Die Eltern vergleichen ihr Kind mit anderen Kindern. Und da immer mehr Kinder übergewichtig sind, wird dies zunehmend als normal empfunden“, glaubt Prof. Dr. Petra Warschburger, die am Psychologischen Institut der Universität Potsdam die Abteilung Beratungspsychologie leitet.
In einer aktuellen US-Studie wird diese Auffassung bestätigt. Schätzten Anfang der 1990er-Jahre noch 21 bzw. 39% der Eltern ihre übergewichtigen Jungen bzw. Mädchen auch als übergewichtig ein, waren es bei einer von 2005 bis 2010 laufenden Befragung nur noch 16 bzw. 22% [1]. Die Arbeitsgruppe um Dr. Andrew Hansen von der Georgia Southern University in Statesboro sieht als Ursache für diese Veränderung ebenfalls eine Verschiebung der Normen für das Körpergewicht.
Der Body-Mass-Index ist für Kinder im Wachstum ungeeignet
Ob ein Kind noch normalgewichtig ist, sei nicht so leicht einzuschätzen wie bei Erwachsenen, erinnert Warschburger. „Erwachsene können sich an den festgelegten BMI-Grenzwerten orientieren. Doch da Kinder sich noch im Wachstum befinden, ist bei ihnen der BMI nicht anwendbar“, so Warschburger gegenüber Medscape Deutschland. Anstatt am BMI orientiere man sich an Perzentilenkurven. Als übergewichtig gilt ein Kind, wenn es schwerer ist als 90% seiner Alters- und Geschlechtsgenossen.
Tabellen mit den jeweils normalen Gewichtspannen für jede Altersgruppe gibt es zwar, „doch für die Eltern ist der Umgang damit häufig zu schwierig, weshalb sie eher soziale Vergleiche ziehen“, so Warschburger.
Die Auswertung von Hansen und Kollegen basiert auf Befragungen aus NHANES. Von 1988 bis 1994 und von 2005 bis 2010 wurden jeweils rund 3.000 Elternteile, meist Mütter, befragt, wie sie das Gewicht ihrer 6 bis11-jährigen Kinder einschätzen: zu hoch, zu niedrig oder gerade richtig. Außerdem wurde das tatsächliche Gewicht der Kinder ermittelt und mit den Wachstumskurven der amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) verglichen. Zwischen der ersten und zweiten Befragung nahm die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern ihre Kinder korrekt als übergewichtig einordneten um 24% ab.
Eltern spielen die entscheidende Rolle
„Wie gesund sich Kinder verhalten, wird im Schulalter noch überwiegend von den Eltern beeinflusst und kontrolliert“, schreiben die Autoren. „Entscheidend für eine erfolgreiche Gewichtsreduktion bei übergewichtigen Kindern ist, dass die Eltern das Übergewicht auch wahrnehmen.“
„Wenn Eltern nicht erkennen, dass ihr Kind Übergewicht hat, dann sind sie auch nicht bereit, etwas zu unternehmen“, bestätigt Warschburger. Dies könnte auch einer der Gründe für den geringen Erfolg vieler Programmen zur Prävention und Reduktion von Übergewicht bei Kindern sein, vermuten die Autoren. „Wenn man mit solchen Programmen in Kitas und Schulen kommt, fühlen sich Eltern, die ihr Kind als normalgewichtig empfinden, oft gar nicht angesprochen“, so Warschburger.
nicht erkennen,
dass ihr Kind Übergewicht hat, dann sind sie auch nicht bereit, etwas
zu unternehmen.“
„Deshalb ist es sehr wichtig, dass Kinderärzte Eltern – zum Beispiel bei den U-Untersuchungen – darauf hinweisen, dass das Kind sich nicht in dem für seine Altersgruppe normalen Gewichtsbereich bewegt. Dann kann auch besprochen werden, welche Möglichkeiten es gibt, einen weiteren Gewichtsanstieg zu verhindern.“ Eine sensible Herangehensweise ist dabei entscheidend: „Die Eltern dürfen nicht das Gefühl haben, man wolle ihnen Vorwürfe machen oder ihr Kind normieren. Es geht darum zu besprechen, was gemeinsam getan werden kann, um zu verhindern, dass das Kind chronisch adipös wird“, betonte Warschburger.
Dabei gilt es, bei Übergewicht so früh wie möglich gegenzusteuern. Je älter die Kinder sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihren Gewichtsstatus beibehalten. „Jugendliche, die übergewichtig sind, werden zu 70 bis 80 Prozent auch als Erwachsenen übergewichtig sein“, weiss Warschburger. „Bei Schulkindern liegt die Wahrscheinlichkeit bei etwa 50 Prozent und im Vorschulalter noch niedriger.“
Spezielle Prävention in Hochrisikogruppen
„In Hochrisikogruppen – etwa in Familien aus niedrigen sozialen Schichten oder wenn die Kinder in den ersten beiden Lebensjahren stark zugenommen haben – ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus den überflüssigen Pfunden im Kindesalter eine chronische Adipositas im Erwachsenenalter wird, noch höher“, sagt Warschburger. Auch Hansen und Kollegen fanden: Eltern aus ärmeren Familien bzw. afroamerikanischen Eltern fiel es am schwersten, das Übergewicht ihrer Kinder zu erkennen.
die übergewichtig sind, werden zu
70 bis 80 Prozent auch als Erwachsenen übergewichtig sein.“
Die Autoren betonen deshalb, dass Strategien, die die Wahrnehmung von Übergewicht bei Kindern wieder schärfen sollen, auf den kulturellen Hintergrund der Kinder und Familien abgestimmt sein sollten.
Ein weiterer Risikofaktor ist das Gewicht der Eltern: „In einer Untersuchung haben wir herausgefunden, dass Eltern, die selbst übergewichtig sind, ebenfalls stärker dazu neigen, das Gewicht ihrer Kinder nicht richtig einzuschätzen und die damit verbundenen gesundheitlichen Gefahren unterschätzen“, sagt Warschburger [2]. Selbst wenn das Übergewicht des Kindes richtig erkannt wird, stehen für die Eltern oft psychosoziale Komplikationen wie Hänseleien in der Schule und geringes Selbstwertgefühl des Kindes im Vordergrund. „Es ist deshalb wichtig, auch über die körperlichen Folgen von Übergewicht aufzuklären.“