Zunahme sexuell übertragbarer Infektionen: „Viele sind sorglos geworden“

Simone Reisdorf | 29. Juli 2014

Autoren und Interessenkonflikte

München – Sexuell übertragbare Infektionskrankheiten sind wieder auf dem Vormarsch – allen Aufklärungsaktionen und neuen Medikamenten zum Trotz. Das wurde in der Plenarsitzung „Update 2014“ bei der Dermatologie-Fortbildungswoche in München deutlich [1].


Prof. Dr. Helmut Schöfer

An HIV-Infektionen wurden 2013 insgesamt 3.263 neue Fälle registriert. Das bedeutet eine Inzidenz von 4 Neuerkrankungen/Jahr/100.000 Einwohnern, einen Anstieg um 10% gegenüber dem Vorjahr und eine Verdopplung gegenüber 2001. Einziger Lichtblick: „Trotz allem ist dies die niedrigste Neuinfektionsrate in Westeuropa“, betont Prof. Dr. Helmut Schöfer, Oberarzt der Hautklinik am Universitätsklinikum Frankfurt/Main, beim Kongress.

Trotz HIV: Viele machen's wieder ohne

„Die meisten der Infizierten sind Männer, die Sex mit Männern haben, kurz MSM“, erklärt der Dermatologe mit Schwerpunkt Infektiologie im Gespräch mit Medscape Deutschland. „Viele sind sorglos geworden. Es ist eine neue Generation herangewachsen, die die HIV-Infektion und die Gefahr der AIDS-Erkrankung nicht mehr ernst nimmt. Die Wenigsten von ihnen kennen jemanden, der an AIDS schwer erkrankt und gestorben ist.“

Selbst für den Fall einer Ansteckung gehen offenbar die meisten davon aus, dass sie mit wirksamen Medikamenten „geheilt“ werden könnten. „Das ist aber ein Trugschluss“, so der Experte gegenüber Medscape Deutschland: „Obwohl neue Therapieoptionen die Lebenserwartung und Lebensqualität der Patienten gesteigert haben, sind die Medikamente doch teils mit schweren Nebenwirkungen verbunden, und sie müssen lebenslang angewendet werden – Heilung ist heute noch nicht möglich.“

Syphilis-Inzidenz bei Männern steigt

„Die Zahl gemeldeter Syphilis-Neuinfektionen ist von unter 1.800 im Jahr 2001 auf 5.015 im Jahr 2013 angestiegen, das heißt auf eine Inzidenz von 6,1 Fällen pro 100.000 Einwohnern und Jahr“, so Schöfer. Das sind fast doppelt so viele wie HIV-Infektionen: „Die Syphilis hat HIV bereits 2011 überholt.“

Während die Inzidenz bei Frauen seit Anfang der 1990er-Jahre auf niedrigem Niveau ( ≤ 1/100.000) stabil geblieben ist, wird bei Männern eine ungünstige Entwicklung beobachtet:

  • von 12/100.000 (1981)
  • über 2/100.000 (1991 bis 2001)
  • zurück auf 11,5/100.000 (2013).

Der Anstieg betrifft auch bei Syphilis vor allem Männer, die Sex mit Männern haben. Eine Studie zeigte, dass sie 83% aller Patienten ausmachen. 79% von ihnen hatten zuvor schon einmal eine sexuell übertragbare Infektionskrankheit (sexually transmitted infection, STI). 50,5% sind zusätzlich auch HIV-positiv, trotzdem verwenden 19% niemals Kondome.

„Trotz allem ist dies die niedrigste (HIV-) Neuinfektionsrate in Westeuropa.“
Prof. Dr. Helmut Schöfer

Neue Syphilis-Leitlinie

Zu Syphilis, Gonorrhoe und Chlamydieninfektionen werden derzeit neue Leitlinien erstellt oder sind bereits veröffentlicht. Deren Quintessenz ist in den aktuellen STI-Leitfaden der Deutschen STI Gesellschaft (DSTIG) eingegangen [2].

Schöfer zitierte aus der konsensbasierten S2-Leitlinie zur Syphilis mit 44 neuen Empfehlungen. Er nannte etliche Beispiele: So soll die Ermittlung der serologischen Ausgangswerte für die Verlaufsbeurteilung erst 3 bis 4 Wochen nach Therapiebeginn erfolgen: „Die Werte steigen zu Beginn der Therapie oft noch weiter an, das kann zu Missverständnissen im Sinne eines vermeintlichen Therapieversagens führen.“

Patientennahe Labordiagnostik (Point-of-Care-Tests) ist bei Syphilis zwar sensitiv und spezifisch, aber nicht unbedingt sinnvoll, so die Leitlinie. Denn zuverlässige Ergebnisse lassen sich oft erst nach 2 Stunden ablesen, ein positiver Test muss noch durch weitere Untersuchungen bestätigt werden, und ein negativer Test schließt eine hochinfektiöse Frühsyphilis nicht aus.

Die Therapie der Syphilis erfolgt nach wie vor mit Penicillin über mindestens 10 bis 11 Tage. Alternativen – etwa bei Penicillinallergie – sind Doxycyclin, Erythromycin und intravenöses Ceftriaxon. Bei Patienten mit komorbider HIV-Infektion muss besonders sorgfältig nach Neurosyphilis gefahndet werden.

„Es ist eine
neue Generation herangewachsen,
die die HIV-Infektion
und die Gefahr der AIDS-Erkrankung nicht mehr ernst nimmt.“
Prof. Dr. Helmut Schöfer

Über die Erkrankungszahlen an Gonorrhoe wird in Sachsen Buch geführt – auch sie sind angestiegen. Die Inzidenz stieg von 6,8/100.000 im Jahr 2003 auf 17,6/100.000 in den letzten beiden Jahren. „Bedenklich ist, dass ein neuer Typ der Neisseria gonorrhoeae, H041, sogar schon gegen Ceftriaxon resistent ist“, so Schöfer. Die Gonorrhoe-Leitlinie von 2013 empfiehlt deshalb die Kombinationstherapie mit Ceftriaxon und Azithromycin von vornherein als Standardbehandlung.

Informationslücken bei deutschen Jugendlichen

Während deutsche Jugendliche ab 16 Jahren über Syphilis und Gonorrhoe noch einigermaßen Bescheid wissen, zeigen sie in einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufkärung (BZgA) große Informationsdefizite bei anderen STI wie Hepatitiden, Genitalherpes, Chlamydien, Kondylomen und Trichomoniasis. An diese Erkrankungen denken überhaupt nur 7 bis 14% der Jugendlichen, wenn sie STI aufzählen sollen (Stand 2013).

Mit Chlamydien sind aber 3 bis 7% der sexuell aktiven Mädchen von 15 bis 17 Jahren und 4,5% der Mädchen von 18 bis 19 Jahren infiziert, dazu auch 1% der Jungen im Teenageralter. Die Infektion verläuft häufig asymptomatisch; trotzdem besteht die Gefahr von Spätfolgen bis hin zur Infertilität. Über den kostenlosen Chlamydientest für Frauen bis 25 Jahre wissen leider nur 24% der 16- bis 20-jährigen und 39% der 21- bis 25-jährigen Frauen Bescheid.

HPV-Impfung bald auch für Jungen?

„Humane Papillomaviren, HPV, sind für 100 Prozent der Zervixkarzinome, aber auch für 36 bis 50 Prozent aller Penis- und 75 bis 80 Prozent aller Analkarzinome verantwortlich“, so Schöfer. „Und allein HPV 16 ist – je nach Quelle – an 20 bis 70 Prozent aller oropharyngealen Karzinome beteiligt.“

„Bedenklich ist, dass ein neuer Typ der Neisseria gonorrhoeae … sogar schon gegen Ceftriaxon resistent ist.“
Prof. Dr. Helmut Schöfer

Dies hat zu einer Indikationserweiterung der tetravalenten HPV-Impfung mit den Typen 6, 11, 16 und 18 geführt: Die European Medicines Agency (EMA) empfiehlt den Impfstoff nicht nur für Mädchen, sondern nun auch für Jungen von 9 bis 13 Jahren; 2 Injektionen im Abstand von 6 Monaten genügen.

Die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut hat dazu bisher noch nicht Stellung bezogen. „Die Empfehlung ist einfach noch zu neu“, so Schöfer auf Nachfrage von Medscape Deutschland. „Wir werden aber sicherlich in den nächsten Wochen etwas dazu hören, und wir hoffen, dass die STIKO diese Empfehlung übernimmt.“

Derzeit noch Zukunftsmusik sind HPV-Impfstoffe mit wesentlich mehr Serotypen oder therapeutische, postexpositionell anwendbare HPV-Impfstoffe, die aktuell in klinischen Studien getestet werden.

Referenzen

Referenzen

  1. 24. Fortbildungswoche für praktische Dermatologie und Venerologie, 19. bis 25. Juli 2014, München
    Plenarsitzung: „Update 2014“, 24.07.2014
    http://www.fortbildungswoche.de/home/impressionen.html
  2. Deutsche STI-Gesellschaft: STI-Leitfaden für die Kitteltasche 2014/2015, 2. Auflage
    http://dstig.de/literaturleitlinienlinks/sti-leitfaden.html

Autoren und Interessenkonflikte

Simone Reisdorf
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Schöfer H: Es liegen keine Angaben zu Interessenkonflikten vor.

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