Otitis media: Lassen Antibiotika einen Erguss doch schneller abheilen?

Petra Plaum | 25. Juli 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Bis zum 3. Geburtstag haben statistisch gesehen 2 von 3 Kindern weltweit mindestens eine akute Otitis media (AOM) hinter sich [1]. Seit Jahren debattieren Experten im In- und Ausland darüber, ob, wann und für welche Kinder hier eine Antibiose indiziert ist. Argumente pro Antibiotikatherapie lieferten jetzt Wissenschaftler aus Finnland in JAMA Pediatrics. „Wir kommen zu dem Ergebnis, dass die antimikrobielle Behandlung einer akuten Otitis media bei Kindern von Vorteil ist, weil sie die Dauer von Paukenergüssen signifikant verkürzt“, betonen Dr. Terhi Tapiainen und ihre Kollegen aus der Universitätskinderklinik in Oulu [2].

„Kernaussage
dieser Studie ist, dass Antibiotika bei AOM Hörschädigungen vorbeugen. Dafür liefern die Autoren jedoch keinen überzeugenden Beweis.“
Prof. Dr. Reinhard Berner

Damit steht erstmals eine neue Untersuchung im Widerspruch zu anderen randomisiert-kontrollierten Studien und Metaanalysen, die keinen solchen Vorteil auf den Mittelohrerguss ausmachen konnten.

Prof. Dr. Reinhard Berner, Leiter der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Dresden, möchte den Studienautoren nicht in allen Punkten folgen: „Kernaussage dieser Studie ist, dass Antibiotika bei AOM Hörschädigungen vorbeugen. Dafür liefern die Autoren jedoch keinen überzeugenden Beweis.“ Berner ist in der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie e. V. (DGPI) an der Erstellung einer neuen S2-Leitlinie zu AOM beteiligt, die von mehreren Fachgesellschaften Ende September veröffentlicht werden soll.  

Innovatives Studiendesign: Eltern erstellen Tympanogramme

Dass sie zu einer positiveren Bewertung der Antibiotikaeffekte kommen als frühere Studien, schreiben die Autoren ihrer neuen Vorgehensweise zu: Mit Hilfe der Eltern wurde täglich ein Befund über den Mittelohrstatus erhoben, die Fortschritte konnten so exakt dokumentiert werden.

An der finnischen Studie nahmen 84 Kinder und Jugendliche im Alter von 6 Monaten bis 15 Jahren teil, deren Rekrutierung zwischen den Jahren 1999 bis 2012 dauerte. Die Teilnehmer wurden gleichmäßig in 2 Gruppen aufgeteilt und je eine Woche lang behandelt: Die Verumgruppe bekam Amoxicillin plus Clavulansäure, die Placebogruppe ein optisch und geschmacklich ähnliches Placebo.

„Im Vergleich
zur Placebogruppe lösten sich in der antimikrobiell behandelten Gruppe die Paukenergüsse sehr schnell auf.
Der Unterschied
war größer, als wir anfänglich gedacht hatten.“
Dr. Terhi Tapiainen und Kollegen

Die Diagnose AOM wurde zu Beginn der Behandlung mit Hilfe von Otoskopie und Tympanometrie gestellt, um die Wölbung und Schwingungsfähigkeit des Trommelfells beurteilen zu können. An Tag 3 und 7, danach wöchentlich wiederholte der Arzt diese Untersuchungen – bis die Mittelohrentzündung abgeheilt war.

Parallel dazu erstellten die Eltern der Patienten zuhause mit kleinen Tympanometern täglich selbst Tympanogramme. „Nach einer halbstündigen Einweisung durch einen Arzt beherrschten die Eltern den Umgang mit dem Gerät“, berichtet Tapiainen. Es oblag den Eltern ebenfalls, Tagebuch über Symptome wie eine erhöhte Körpertemperatur und Schmerzen des Kindes zu führen.

Im Durchschnitt waren die antibiotisch behandelten Kinder nach 2,2 Tagen schmerzfrei, jene aus der Placebogruppe nach 3,2.  Dafür litten keine Teilnehmer aus der Placebogruppe, aber 5 Kinder aus der Verumgruppe an Durchfall, der allerdings keine Therapie erforderlich machte. Erbrechen trat bei 4 Kinder aus der Verumgruppe, aber nur bei 2 aus der Placebogruppe auf. Eine ernsthafte Komplikation wie z. B. eine Mastoiditis entwickelte sich bei keinem Teilnehmer.

Das Trommelfell ist schneller wieder fit

Der wichtigste Vorteil der Antibiotikatherapie zeigte sich gleich zu Beginn: Die Befunde in der Otoskopie und im Tympanogramm wurden in der Verumgruppe signifikant früher unauffällig. Besonders deutlich war die Diskrepanz bei den Tympanogrammen der Kinder im Alter zwischen 2 und 6 Jahren (48 Kinder): Die Trommelfelle der antibiotisch therapierten Kinder waren im Durchschnitt 20 Tage früher wieder normal schwingungsfähig. Bei den unter 2-Jährigen (17 Kinder) betrug der Unterschied zwischen den Gruppen immer noch im Durchschnitt 8,2 Tage, bei den 6- bis 15-Jährigen (19 Kinder) lediglich 1,2 Tage.

Otoskopisch war das Ohr bei den Kindern unter Antibiose m Durchschnitt 9,7 Tage früher unauffällig. Es ist nicht dokumentiert, ob bei den Teilnehmern, bei denen am Tag 60 noch ein Paukenerguss vorlag, dieser noch spontan abheilte, ob die Kinder einer Operation bedurften oder schwerhörig blieben.

Die Studie war nicht darauf angelegt, die unterschiedlichen Folgen einer akuten Otitis media zu erfassen. „Dennoch befürchten wir, dass eine Zurückhaltung beim Einsatz von Antibiotika bei AOM die Zahl derer, die weitere Follow-up-Untersuchungen und womöglich auch Operationen benötigen, erhöhen könnte“, schreiben die finnischen Wissenschaftler.

Sie verweisen als Begründung auf ein fünffach erhöhtes Risiko, dass ein Paukenerguss ohne Antibiotika-Therapie persistiert. Tapiainen betont auf Nachfrage von Medscape Deutschland: „Im Vergleich zur Placebogruppe lösten sich in der antimikrobiell behandelten Gruppe die Paukenergüsse sehr schnell auf. Der Unterschied war größer, als wir anfänglich gedacht hatten.“

„Und auch bei
jenen Otitiden
mit bakterieller Beteiligung wissen wir, dass sie sich binnen 24 Stunden auflösen können, wenn der Abfluss
über die Tube gewährleistet ist.“
Prof. Dr. Reinhard Berner

Tatsächlich war nach 60 Tagen noch bei 24% (n = 10) aller Kinder in der Placebogruppe ein Paukenerguss nachweisbar, jedoch nur bei 5% (n = 2) der Kinder in der antibiotisch behandelten Gruppe. Die Studienautoren ziehen daraus den Schluss, dass bei einigen Kindern die sofortige Antibiotikatherapie bleibende Hörschädigungen und operative Eingriffe verhindern könnte.

Wer wirklich Antibiotika braucht

Bei Kleinkindern ab 2 Jahren, das räumt auch Berner ein, persistiert ein Paukenerguss tatsächlich häufiger. Aber: Ob Antibiotika – vom Tag der Diagnosestellung an verabreicht – dies zuverlässig verhindern, ließe sich in solch einer Studie nicht zeigen. Ebenso wenig sei beantwortet, wie oft ein Erguss, der nach 60 Tagen noch nicht abgeklungen ist, tatsächlich zu einer bleibenden Hörstörung führt.

Berner lobt an der Untersuchung aber auch, dass sie doppelt verblindet und placebokontrolliert war, und hebt den innovativen Ansatz hervor, die Eltern mit Hilfe einer Tympanometer-Messung einzubeziehen. Die Studie könnte jedoch die Frage „Antibiotika – ja oder nein und wenn ja, bei wem?“ nicht klären.

Hierzu wünscht Berner sich neue, größere Studien mit homogenen Gruppen, in denen die Kinder ähnliche Vorgeschichten haben, z. B. was Entzündungen angeht, und in denen die Störfaktoren minimiert werden. In Deutschland änderten die vorliegenden Ergebnisse nichts an den Empfehlungen, hält er fest: Nur Risikopatienten – etwa Säuglinge unter 6 Monaten, beidseitig erkrankte Kinder unter 2 Jahren, Patienten mit Immundefizienz oder hohem Fieber – sollten sofort ein Antibiotikum erhalten.

Bei allen anderen könne man zunächst 24 bis 48 Stunden abwarten, dabei sollten die Kinder sorgfältig beobachtet und je nach Bedarf schmerzstillend behandelt werden. Schließlich gelte es, Anitbiotika-Resistenzen zu stoppen und unnötige antibiotische Behandlungen zu minimieren. 10 bis 30% aller Otitiden sind Schätzungen zufolge nur durch Viren ausgelöst [3]. „Und auch bei jenen Otitiden mit bakterieller Beteiligung“, so Berner, „wissen wir, dass sie sich binnen 24 Stunden auflösen können, wenn der Abfluss über die Tube gewährleistet ist.“

Referenzen

Referenzen

  1. Vergison A, et al: Lancet Infect Dis 2010;10:195–203
    http://dx.doi.org/10.1016/S1473-3099(10)70012-8
  2. Tapiainen T, et al: JAMA Pediatr 2014;168(7):635-641
    http://dx.doi.org/10.1001/jamapediatrics.2013.5311

Autoren und Interessenkonflikte

Petra Plaum
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Berner R, Tapiainen T: Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.