Offenbar gelangen große Mengen von illegalem Sildenafil (offizieller Handelsname Viagra®) über einen florierenden Online-Schwarzmarkt an den Verbraucher. Vor dieser Entwicklung warnen niederländische Epidemiologen und Umweltmediziner soeben in einem im British Medical Journal veröffentlichten Schreiben [1].
Die Wissenschaftler um Dr. Bastiaan Venhuis vom Staatlichen Institut für öffentliche Gesundheit und Umwelt (RIVM) in Bilthoven haben das Abwasser in den Niederlanden auf Rückstände von Sildenafil untersucht: Das Ausmaß dieser Rückstände ist deutlich höher, als es die verschriebene Menge des Medikamentes erwarten lassen würde. Als Konsequenz fordern die Wissenschaftler eine bessere Aufklärung über die Risiken des kriminellen Online-Handels mit Arzneimitteln.
„Die Ergebnisse der Studie überraschen mich eigentlich nicht, denn es gibt einen großen Markt für gefälschte Präparate. Viele Nutzer bestellen gerne Viagra® im Internet, häufig, um es einfach mal auszuprobieren“, bestätigt Prof. Dr. Aglaja Stirn gegenüber Medscape Deutschland. „Aber natürlich auch, weil es anonym ist. Impotenz ist immer noch mit Scham besetzt, auch wenn es längst ein bekanntes Problem ist und die meisten wissen, dass ein Mann nicht dauerpotent sein kann. Ein dritter Punkt ist sicherlich, dass Viagra aus dem Internet auch günstiger ist“, erläutert die Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Schleswig-Holstein.
In einem Online-Leser-Kommentar zu den Befunden aus Holland fordert Dr. Jamie N. Rao, Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen in Walsall in England, nicht einfach nur die illegale Nutzung zu verdammen: „Die Alternative wäre, den Bedarf für das Medikament ernst zu nehmen“, schreibt er und fordert, die Rezeptpflicht endlich aufzuheben.
Hoher Anteil nicht erklärbarer Mengen an Sildenfafil im Abwasser
Die niederländischen Forscher nutzten die neuen Methoden der so genannten „Abwasser-Epidemiologie“. Sie beruhen auf Abwasser-Analysen, mit deren Hilfe sich der Verbrauch von Substanzen quantifizierten lässt. Die Forscher haben hierfür an 7 aufeinander folgenden Tagen Proben aus 3 Haupt-Klärwerken entnommen, die das Abwasser für Amsterdam, Eindhoven und Utrecht entsorgen. In den Proben wurden die Konzentrationen an Sildenafil und die der 2 wichtigsten Abbauprodukte des Sildenafils gemessen. Dies erlaubt es, die ursprünglich ins Abwasser gelangte Dosis an Sildenafil einzuschätzen.
„Wir wollten verstehen, welchen Schaden illegale Arzneimittel anrichten können. Dafür ist es notwendig, den Umfang des illegalen Marktes zu kennen. Sildenafil diente uns hierbei als ein Beispiel. An diesem Modell wollen wir weitere Untersuchungen ausrichten“, erklärt Venhuis gegenüber Medscape Deutschland.
Wieviel an legitimiertem, also ärztlich verordnetem Sildenafil in Umlauf gekommen ist, wurde anhand der nationalen Apothekendatenbank geschätzt. Etwa ein Viertel des eingesetzten Sildenafils wurde zur Behandlung von pulmonaler Hypertonie verordnet, der Großteil aber zur Therapie von Erektionsstörungen.
Das Ergebnis der Untersuchung ist für die Forscher alarmierend: Mindestens 60% der im Abwasser gefundenen Mengen an Sildenafil ließen sich nicht durch die Menge an verordnetem Sildenafil erklären. Mögliche Verfälschungen der Ergebnisse wurden berücksichtigt und ausgeschlossen. So ist zum Beispiel der nicht verschriebene Anteil bezogen auf die Einwohner in allen 3 untersuchten Städten ähnlich hoch – trotz der großen Unterschiede hinsichtlich des Tourismusaufkommens und Pendlerverkehrs. Die Autoren schließen daher, dass der unerklärbar hohe Anteil an Sildenafil im Abwasser hauptsächlich auf illegale Verkäufe des verordnungspflichtigen Präparates zurückzuführen ist.
Schwarzmarktpreise: Sildenafil teurer als Kokain
Beunruhigend sind außerdem die in einem anderen BMJ-Bericht genannten Zahlen einer durch Interpol koordinierten Operation namens PANGEA VI [2]. Bei dieser Operation wurde im Juni 2013 in 99 Staaten eine Woche lang der internationale Warenverkehr nach Arzneimittelfälschungen überprüft. Dabei wurden 9,8 Millionen unlizenzierte und gefälschte Medikamente beschlagnahmt, 9.600 illegale Internetseiten gelöscht und 58 Menschen festgenommen.
Viele der Internetseiten sähen ausgesprochen professionell aus, heißt es in dem Bericht. Die meisten Medikamente kämen aus Indien und seien unlizenzierte Versionen. Früher kamen die über derartige Seiten bestellten Medikamente in vertrauenswürdig aussehenden Paketen mit Beipackzetteln, heutzutage wären aber einfache Blisterverpackungen üblicher.
Medikamente gegen erektile Dysfunktionen machten früher den Großteil der Beschlagnahmungen aus, jetzt sei die Bandbreite an Arzneimitteln, die gefälscht werden, größer geworden. Vor allem handele es sich auch um Krebsmedikamente.
Ein Faktenblatt der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) weist darauf hin, dass Arzneimittelfälschungen für Kriminelle äußert lukrativ sind. So kostet ein Kilogramm an gefälschtem Sildenafil auf dem Schwarzmarkt im Durchschnitt 90.000 Euro und ist damit teurer als Kokain, das nur etwa 65.000 einbringt. Zwar gibt es mittlerweile vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) ein Sicherheitslogo für Apotheken mit Versandhandelserlaubnis, jedoch können Internet-Siegel auch leicht gefälscht werden.
Dr. Ursula Sellerberg, Apothekerin und stellvertretende Pressesprecherin der ABDA, erklärt auf Nachfrage von Medscape Deutschland: „Dass Verbraucher immer mehr Arzneimittel im Internet bestellen, überrascht uns selbst. Nach der intensiven Öffentlichkeitsarbeit verschiedener Akteure in den letzten Jahren hätte man erwarten können, dass sich Verbraucher der Risiken von Medikamentenbestellungen bei dubiosen Internetversendern bewusster sind als früher.“
Gesundheitliche Risiken durch Fälschungen
Die Sexualmedizinerin Stirn berichtet von ihren Erfahrungen aus der Praxis: „Es ist nicht selten, dass mir Patienten erzählen, dass sie sich im Internet Präparate bestellt haben. Darunter sind auch Patienten, die von Nebenwirkungen berichten und das Mittel dann schnell abgesetzt haben. Ich habe bei meinen Patienten aber noch nicht von gravierenden Nebenwirkungen bei illegalem Viagra® gehört. Aber man weiß natürlich auch nicht immer, was die Patienten, die in der Notaufnahme landen, tatsächlich genommen haben. Die Dunkelziffer ist schwer einzuschätzen.“
Dem stimmt Sellerberg zu: „Zu den Gefahren durch gefälschte Medikamente sind allgemeine Aussagen nicht ohne weiteres möglich, da sie vom jeweiligen Einzelfall abhängig sind. Todesfälle durch gefälschte Medikamente sind bekannt, andererseits haben einige Fälschungen keine gesundheitliche Auswirkungen, zum Beispiel wenn der korrekte Wirkstoff in der korrekten Menge und Qualität von einem anderen Anbieter als dem Markeninhaber verarbeitet wird.“
nicht immer, was
die Patienten, die
in der Notaufnahme landen, tatsächlich genommen haben.
Die Dunkelziffer
ist schwer einzuschätzen.“
Die Gefahren der gefälschten Medikamente, so heißt es in dem BMJ-Bericht des British Medical Journals, liegen zum einen in der Über- oder Unterdosierung, etwa weil eine Substanz gestreckt wurde. Zum anderen betreffen sie Nebenwirkungen und fehlende Informationen darüber, wie das Medikament anzuwenden ist und welche Stoffe darin enthalten sind.
„Bei Mitteln aus dem Internet besteht generell die Gefahr, dass man die genaue Zusammensetzung nicht kennt. Es kann immer etwas enthalten sein, was nicht gut vertragen wird. Vor allem fehlt der behandelnde Arzt, der das kontrollieren kann, der die Nebenwirkungen und mögliche Interaktionen mit anderen Medikamenten kennt. Ein weiteres Problem sind natürlich die Schwankungen in der Dosis der illegalen Mittel“, bestätigt auch Stirn. Zudem seien speziell im Falle von Viagra® unerwünschte Wirkungen selbst bei ordnungsgemäßer Verschreibung schwer einzuschätzen: „Manche 60- oder 70-Jährige vertragen es sehr gut, manche 40-Jährige nehmen es nur ganz kurz, weil sie teils gravierende Nebenwirkungen verspüren, wie Übelkeit, Schwindel, Durchfall oder allergische Reaktionen.“