
Selten ist keineswegs mit unbedeutend gleichzusetzen. Ein wichtiges Beispiel dafür sind seltene Erkrankungen, unter denen etwa 4 Millionen Deutsche leiden. Diese Krankheiten verlaufen in der Regel chronisch, betreffen oft mehrere Organsysteme und sind meist nur schwer zu behandeln. Umso wichtiger ist es, zuverlässige Versorgungskonzepte für diese Patienten zu etablieren. Medscape Deutschland sprach auf dem X. Innovationskongress der Deutschen Hochschulmedizin mit Prof. Dr. Rieß, Ärztlicher Direktor des Zentrums fürs Seltene Erkrankungen an der Universität Tübingen, über die wichtigsten Schritte zur Diagnose und Mängel bei der bisherigen Versorgung.
Medscape Deutschland: Herr Professor Rieß, Patienten mit seltenen Erkrankungen warten oft Jahre auf die richtige Diagnose. Welche Symptome sollten denn an eine seltene Erkrankung denken lassen?
Prof. Dr. Rieß: Seltene Erkrankungen sind nicht nur für Niedergelassene eine große Herausforderung, sondern auch für Klinikärzte – denn keiner kann die Vielzahl der unterschiedlichen Symptomkomplexe kennen. Warnzeichen sind in jedem Fall unübliche Verläufe bei banalen Erkrankungen und abweichende Reaktionen auf deren übliche Therapie. Auch wenn ein Patient unter verschiedenen Organschäden gleichzeitig leidet, sollte das einen Arzt aufhorchen lassen, selbst wenn die einzelnen Schäden für sich genommen gar nicht mal so selten sind. Wenn aber in einem Patienten viele dieser einzelnen Organerkrankungen zusammenkommen, kann das für eine systemische und seltene Erkrankung sprechen.
Medscape Deutschland: Muss es allerdings auch nicht. Wie sollte ein Arzt weiter diagnostisch vorgehen?
sind unübliche Verläufe bei banalen Erkrankungen und abweichende Reaktionen auf
deren übliche Therapie.“
Prof. Dr. Rieß: An jedem Zentrum für seltene Erkrankungen gibt es spezielle Ärzte- und Patientenlotsen. Die schauen sich alle bisherigen Aufzeichnungen genau an, bestellen den Patienten für weitere Untersuchungen ein und sorgen dafür, dass die Patienten von den relevanten interdisziplinären Spezialisten gesehen werden. Das Zentrum in Tübingen hat diesbezüglich ein Vorreiterprojekt realisiert. Monatlich kommen 40 bis 50 Ärzte, vom Humangenetiker bis zum Radiologen, in interdisziplinären Fallkonferenzen zusammen, um ihre kniffligsten Fälle zu diskutieren.
Medscape Deutschland: Wie geht es weiter wenn die Diagnose erst einmal steht?
Prof. Dr. Rieß: Zunächst einmal wird überlegt, wo der Patient weiterbehandelt werden soll. Letztlich haben wir es an den Zentren nicht nur mit seltenen, sondern häufig auch mit ultraseltenen Erkrankungen zu tun. Die 14 Zentren in Deutschland besitzen zwar Überlappungen, haben aber dennoch ihre Spezialgebiete. Gegebenenfalls sollte der Patient deshalb noch einmal an einem Zentrum vorstellig werden, dass sich intensiv mit dessen Krankheitskomplex auseinandersetzt, um so die bestmögliche Versorgung zu erhalten.
Medscape Deutschland: Das kann aber oft recht weit weg von Heimatort des Patienten sein.
Prof. Dr. Rieß: Zweifelsohne. Natürlich kann der Patient nicht wegen jeder Erkältung in sein passendes Behandlungszentrum fahren. Die langfristige Betreuung funktioniert meist nur in enger Zusammenarbeit mit dem Hausarzt. Immer wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt – und das kann schon eine Erkältung sein – sollte sich der behandelnde Arzt mit den Experten austauschen. Doch leider legt uns die Politik hier Steine in den Weg.
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Medscape Deutschland: Inwiefern?
Prof. Dr. Rieß: Wir benötigen an deutschen Kliniken und Praxen dringend einheitliche Telekommunikationssysteme. Denn zurzeit ist der Austausch jedes Röntgenbildes und jeder Labordiagnostik mit erheblichen Umständen verbunden. Wichtig wäre es außerdem, ein deutschlandweites System zu etablieren, dass die Videokonferenz zwischen Klinikern und Niedergelassenen erlaubt. Häufig ist es einfach notwendig, den Patienten zu sehen, um dessen Zustand adäquat beurteilen zu können. Die Wahrnehmung vom Experten und vom Hausarzt ist nämlich oft sehr unterschiedlich. Nur in direkter Zusammenarbeit kann für jeden Lebensumstand das optimale Medikament und die optimale Dosis gefunden werden.
Medscape Deutschland: Schön und gut, doch gegen viele seltene Erkrankung selbst gibt es ja leider noch keine adäquate Therapie.
Prof. Dr. Rieß: Das ist leider wahr. Circa 4 Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer seltenen Erkrankung, in den allermeisten Fällen lebenslang. Weltweit werden aber jährlich nur 6 neue Medikamente zugelassen. Nur etwa 70 Medikamente haben den „Orphan Drug Status“. Es wird Zeit, dass wir uns unserer gesellschaftlichen Verantwortung stellen und diesen Patienten bessere Therapien zur Verfügung stellen.
Medscape Deutschland: Ist ein mangelndes Interesse der Pharmaindustrie schuld an dem Dilemma?
nützt oft auch
der Entwicklung anderer Medikamente.“
Prof. Dr. Rieß: Über ein mangelndes Interesse von Seiten der Industrie können wir uns nicht mehr beklagen. Gerade die Pharmafirmen haben sich in dieser Hinsicht in den letzten Jahren komplett gewandelt. Einerseits, weil bei einem wirksamen Medikament immer eine weltweite Zulassung möglich ist. Andererseits nützt diese Erforschung seltener Erkrankungen auch oft der Entwicklung anderer Medikamente. Viele seltene Erkrankungen beruhen auf einzelnen genetischen Defekten, die in abgewandelter Form auch bei Volkskrankheiten vorliegen können.
Medscape Deutschland: Können Sie uns dazu ein Beispiel nennen?
Prof. Dr. Rieß: Der lysosomalen Speicherkrankheit Morbus Gaucher liegt ein Gendefekt im Enzym der Glucocerebrosidase (GBA) zugrunde. Es handelt sich hierbei um eine autosomal rezessive Erkrankung die überwiegend Kinder betrifft, die den Defekt in beiden Allelen tragen. Bei der weiteren Erforschung der Erkrankung fiel auf, dass Verwandte dieser Kinder überproportional häufig an Parkinson erkranken. Eine Heterozygotie für Gendefekte der GBA gilt seither als Risikofaktor für Parkinson.
Medscape Deutschland: Die Pharmaindustrie hat also keinen Grund, sich in Sachen Entwicklung neuer Medikamente gegen seltene Erkrankungen zurückzuhalten. Wo liegen dann die Hürden bei der Behandlung?
Prof. Dr. Rieß: Zum einen ist es immer noch sehr schwierig, eine Zulassung für ein solches Medikament zu erhalten – letztlich kann es ja nur an sehr wenigen Personen getestet werden. Zum anderen wird das derzeitige Abrechnungsmodell der Diagnostik und Behandlung nicht gerecht. Vom genauen Studium der Krankenakten bis hin zu den interdisziplinären Fallkonferenzen – all das wird von Krankenkassen nahezu nicht honoriert. Schließlich brauchen wir auch in Deutschland Strukturen, die eine klinische Testung von Medikamenten bei Patienten mit seltenen Erkrankungen fördern, so beispielsweise Forschungstherapiestationen, wie sie in vielen Ländern vorhanden sind, und eine deutliche Ausweitung der Finanzierung von Medikamentenstudien.
Medscape Deutschland: Herr Professor Rieß, wir danken für das Gespräch.