
Zur Prävention und Therapie der Adipositas steht ab sofort eine neue S3-Leitlinie zur Verfügung [1]. „Sie räumt mit falschen Vorstellungen und Empfehlungen auf, die fast täglich in den Medien kursieren und Menschen mit Übergewicht verwirren“, sagt Prof. Dr. Martin Wabitsch, Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG), unter deren Federführung die Leitlinie entstanden ist.
Geradezu revolutionär in der heutigen Zeit ist die Erkenntnis, dass die Zusammensetzung der Reduktionskost aus den Hauptnährstoffen Fett, Kohlenhydrate und Eiweiß von untergeordneter Bedeutung ist. Im Gespräch mit Medscape Deutschland betont der Ulmer Endokrinologe Wabitsch, dass es für eine Gewichtsabnahme letztlich nur auf Kalorienzufuhr und -verbrauch ankomme. Ob man das empfohlene Energiedefizit von 500 kcal am Tag über „low-fat“, „low-carb“ oder eine eiweißbetonte Kost erreiche, spiele keine Rolle. „In den letzten Jahren gab es vergleichende Untersuchungen, die die verschiedenen Diätstrategien miteinander verglichen haben und keinen bedeutsamen Unterschied herausarbeiten konnten“, sagt Wabitsch.
Adipositas ist eine Krankheit
Ein weiterer wichtiger Punkt der neuen Leitlinie: „Adipositas wird nun als Krankheit definiert. Diese Feststellung ist überfällig und wegweisend. In Deutschland herrscht noch immer die überholte Vorstellung vor, dass Menschen mit Adipositas selbst schuld sind, sich einfach nicht beherrschen können und schon abnehmen könnten, wenn sie nur etwas Disziplin aufbringen würden“, kritisiert Wabitsch. „Nicht nur in der Bevölkerung, auch bei vielen Ärzte und Politikern ist noch nicht angekommen, was andere Länder schon länger wissen und die Wissenschaft bewiesen hat: Willentlich ist das Körpergewicht langfristig nur wenig zu beeinflussen.“
Wabitsch, der an der Ulmer Universitätsklinik eine Arbeitsgruppe zur experimentellen und klinischen Forschung im Bereich Endokrinologie, Diabetologie und Adipositas leitet, erklärte, dass das Körpergewicht stark durch Hormone reguliert werde. Gerate diese Regulation aus dem Ruder, wie es bei Adipositas der Fall sei, handele es sich um eine Erkrankung des Gehirns, denn dort seien alle Regelkreise zusammengeschaltet.
das Körpergewicht langfristig nur wenig zu beeinflussen.“
„Die Bestätigung, dass Adipositas eine Krankheit ist, wird hoffentlich dazu beitragen, der weit verbreiteten Stigmatisierung Übergewichtiger im Alltag entgegenzuwirken“, so Wabitsch.
Zudem ist diese Feststellung die Voraussetzung dafür, dass fettleibigen Patienten mit Folgekrankheiten zukünftig eine kassenfinanzierte Therapie ermöglicht werden kann.
Eine leitliniengemäße konservative Behandlung der Adipositas besteht in einer interdisziplinären Schulung und Betreuung des Patienten unter Mitarbeit von speziell dafür ausgebildetem Fachpersonal aus den Bereichen Ernährung, Bewegung und Verhaltenstherapie. Hier hat der Hausarzt eine wegbereitende und dann koordinierende Rolle.
Durch solche Programme, die eine nachhaltige Veränderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens zum Ziel haben, können klinisch bedeutsame Gewichtsabnahmen und eine anschließende Gewichtsstabilisierung erreicht werden. Dies trifft jedoch nur für einen Teil der teilnehmenden Patienten zu. Außerdem hat die Mehrzahl der Patienten in Deutschland heute keinen Zugang zu solchen Programmen. Hier besteht demnach ein Handlungsbedarf.
dass Adipositas
eine Krankheit ist, wird hoffentlich
dazu beitragen, der
weit verbreiteten Stigmatisierung Übergewichtiger im Alltag entgegenzuwirken.“
Starre BMI-Grenzwerte setzen sich erneut durch
Ein weiteres – auch zwischen den Fachgesellschaften – heftig umstrittenes Thema sind die Zugangsvoraussetzungen für eine chirurgische Therapie der Adipositas. Bislang werden die kostspieligen bariatrischen Eingriffe von den Kostenträgern nur dann übernommen, wenn der Patient einen Body-Mass-Index (BMI) über 40 kg/m² aufweist. Liegen bereits Folgeerkrankungen, zum Beispiel ein Diabetes, vor, wird der Eingriff auch schon ab einem BMI von 35 kg/m² finanziert.
Damit basiere die Entscheidung für eine Kostenübernahme durch die Krankenkassen heute noch immer auf Kriterien, die Ende der 1980er-Jahre von Experten am grünen Tisch verhandelt worden seien, kritisierte der Adipositaschirurg Prof. Dr. Thomas Horbach Anfang Februar gegenüber Medscape Deutschland als Kommentar auf eine Artikelserie in Lancet Diabetes & Endocrinology. In ihr berichteten US-Autoren über die überholten Kriterien der National Institutes of Health (NIH) für die Adipositaschirurgie (Medscape Deutschland berichtete).
Trotz zahlreicher Kritik an den BMI-Kriterien greift auch die neue Adipositas-Leitlinie diese wieder auf. „Die Festlegung eines BMI von 40 kg/m² als Einstiegkriterium für einen bariatrischen Eingriff erscheint tatsächlich zunächst willkürlich“, sagt Wabitsch. „Es handelt sich dabei um eine nicht evidenzbasierte Aussage, da es für einen solchen strengen Grenzwert ohne die Betrachtung des Lebensalters und weiterer Befunde keine ausreichende Evidenz gibt.“
Bariatrie vollbringt keine Wunder, langfristige Risiken werden sich erst noch zeigen
Wenn die Festlegung sowieso willkürlich ist, weshalb nicht den Einstiegwert auf 35 kg/m² senken? „Es war bei dieser Leitlinie sehr schwierig, einen Konsens zu finden, mit dem alle beteiligten Fachgesellschaften zufrieden waren. Der BMI von 40 kg/m² als Einstiegkriterium für die chirurgische Adipositastherapie war der kleinste gemeinsame Nenner“, erklärt Wabitsch.
40 kg/m² als Einstiegkriterium
für die chirurgische Adipositastherapie war der kleinste gemeinsame Nenner.“
Zu bedenken sei aber auch, dass die bariatrische Chirurgie keine Wunderkur sei und ihre eigenen Risiken habe. Und während das Risiko für schwere Folgen der Adipositas wie Diabetes, verkürzte Lebendauer und Schlaganfall auch schon ab einem BMI von 35 kg/m² erhöht sei, war es in den Augen der meisten Mitglieder der Leitliniengruppe erst ab einem BMI von 40 kg/m² so hoch, dass es das Risiko einer chirurgischen Adipositastherapie wirklich übertrifft.
„Insbesondere bei Patienten, die jung operiert werden, wissen wir nicht, welche Folgen es hat, 30 oder 40 Jahre mit einer völlig veränderten Magen-Darm-Physiologie zu leben. Eine lebenslange Nachsorge ist deshalb entscheidend, um langfristige Risiken wie etwa Mangelerscheinungen durch die veränderte Nährstoffresorption zu minimieren. Doch daran hapert es in Deutschland“, so Wabitsch.
„Für alles, was nach der Operation kommt, haben wir in Deutschland keinerlei Strukturen“, bemängelt Wabitsch. „Es gibt auch kaum Ärzte, die sich für diese Nachsorge verantwortlich fühlen oder sich dahingehend weitergebildet hätten.“
Adipositastherapie auf den Schultern der Hausärzte – DMP soll Mittel für Weiterbildungen bringen
Laut der am 2. Juni veröffentlichten Leitlinie ist „die Verantwortung von Hausärzten bei der Betreuung von adipösen Menschen besonders hoch“. Demnach sind sie auch überwiegend verantwortlich für die Koordination notwendiger diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen.
„Der Hausarzt spielt in der medizinischen Betreuung adipöser Menschen eine wichtige Rolle“, so Wabitsch, „die aber bislang noch nicht konsequent genug angenommen wird. Auch weil viele Hausärzte sich dafür nicht kompetent fühlen“. Die Weiterbildung von Ärzten im Bereich Adipositas sei noch ein großes Manko, auch weil dafür die Mittel fehlten.
Ein Disease Management Programm (DMP) Adipositas könnte Abhilfe schaffen. Die DAG hatte schon vor Erstellung der neuen Leitlinie beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ein DMP für die Adipositas beantragt. Dieses wurde abgelehnt. Ein neuer Antrag läuft.
„Wir hoffen, dass die bisherige ablehnende Haltung des GB-A zu einem DMP Adipositas durch die Evidenz, die in der neuen Leitlinie zusammengestellt wurde, verändert werden kann und unser Antrag befürwortet wird. Dann könnten wir endlich eine strukturierte Versorgung der Adipositas aufbauen und auch eine Qualitätssicherung über Weiterbildungen betreiben“, betont Wabitsch.