Integrierte Versorgung für psychisch Kranke: Positive Erfahrungen mit den ersten IV-Verträgen

Christian Beneker | 25. Juni 2014

Autoren und Interessenkonflikte

Angst, Depressionen, Schizophrenie: Ob psychische Erkrankungen sich tatsächlich so epidemisch ausbreiten, wie die immer neuen Zahlen vermuten lassen, oder vor allem nur häufiger diagnostiziert werden, ist unklar.

„Zum Teil müssen
die Patienten nach der Diagnose bis zu einem Vierteljahr warten, um eine Therapie zu beginnen.“
Wolfram Beins

Das Robert Koch-Institut etwa hat ermittelt, dass 2011 8,1% der Erwachsenen in Deutschland unter Depressionen litten [1]. Wolfram Beins, Leiter der psychosozialen Beratungsstelle im Niedersächsischen Celle, erklärt: „Bei jedem zweiten Menschen in Deutschland wird einmal im Leben eine psychische Krankheit diagnostiziert, das zeigen Hochrechnungen.“

Aber psychisch kranke Patienten werden in Deutschland oft spät und schlecht versorgt. „Zum Teil müssen die Patienten nach der Diagnose bis zu einem Vierteljahr warten, um eine Therapie zu beginnen“, so Beins zu Medscape Deutschland. Modelle der Integrierten Versorgung (IV) machen indessen Hoffnung, dass seelisch Leidende schneller und passender behandelt werden können als in der Regelversorgung.

Deutschlandweit erste IV-Kooperation mit Pharmafirma

Das zeigt zum Beispiel die deutschlandweit erste und bisher einzige Kooperation einer Krankenkasse mit einem Pharmahersteller zur ambulanten Versorgung von Schizophrenie-Patienten, „Integrierte Versorgung Schizophrenie (IVS)“. „Allein in Niedersachsen leben an die 13.000 Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind. Das hat die AOK des Landes hochgerechnet“, erklärt AOK-Sprecher Carsten Sievers. Die AOK Niedersachsen und die Management-Gesellschaft „Innovation und Integration Im Gesundheitswesen GmbH (I3G)“, eine Tochter des Pharma-Unternehmens Janssen-Cilag, bieten seit 5 Jahren rund 1500 Schizophrenie-Patienten eine ambulante, differenzierte Versorgung an – im Rahmen eines IV-Vertrages.

Der Vertrag könne diejenigen rund 6.800 Patienten im Land erreichen, die in Kliniken oder von niedergelassenen Fachärzten versorgt werden, erklärt Sievers. Die Vereinbarung erweitert die bisherigen Behandlungsmöglichkeiten, zum Beispiel um Angebote der Psychoedukation, Soziotherapie, durch Fachpflege oder aufsuchende Behandlung und Angehörigenbetreuung.

Oft wiesen die Hausärzte die Patienten in eine Klinik ein, wenn sie Krankheitsschübe erlitten. Um solche Einweisungen möglichst zu vermeiden, kümmern sich heute rund 180 Fachärzte, Fachpflegedienste, Rückzugsraumeinrichtungen, Psychiatrische Institutsambulanzen und Klinikpflegedienste ambulant in einem abgestimmten Verfahren um die eingeschriebenen Patienten.

Einsparungen bei Krankenhauskosten

Und so funktioniert die Finanzierung: Die Janssen-Cilag-Tochter I3G und die AOK haben für alle AOK-versicherten Schizophrenie-Patienten in Niedersachsen hochgerechnet, dass ihre Versorgung inklusive der Krankenhauskosten über die 7 geplanten Projektjahre rund 52 Millionen Euro gekostet hätte. Geld, das die AOK für die Versorgung inklusive Klinikkosten in der Regelversorgung also hätte aufbringen müssen. Der Plan war nun: Mit der ambulanten IV diese Summe zu unterschreiten – und zwar durch eine aufsuchende psychiatrische Pflege, Psychoedukation, Psychotherapie, Angehörigenbetreuung.

Die Kosten, die die AOK durch diese integrierte ambulante Versorgung spart, vor allem durch vermiedene, teure Krankenhausaufenthalte der Patienten, bescheren der Kassen also gewissermaßen einen „Gewinn“. Diesen Gewinn teilen sich nun Kasse und I3G, beziehungsweise Janssen-Cilag, so das rechnerische Kalkül.

Dafür hatte der Pharma-Hersteller zuvor das komplette Investment für die IV übernommen, also die Kosten für die Koordinatoren der Leistungen vor Ort, die nötige Abrechnungssoftware, die Fortbildung der Pflegekräfte etc.. I3G kalkuliert nun, dass ihr Anteil am „Gewinn“ größer ist, als ihr Investment.

Das Ganze ist im Sinne des Gesetzgebers: Seit Inkrafttreten des Arzneimittelmarkt-Neuordnungs-Gesetzes (AMNOG) Anfang 2011 können Kassen IV-Verträge sogar mit pharmazeutischen Unternehmen schließen.

Stationäre Aufenthaltsdauer durch IVS halbiert

Inzwischen ist der Vertrag aber auf ganz Niedersachsen ausgerollt und wird ab 2015 von der AOK allein weitergeführt. Das bedeutet auch, dass die Kasse ab kommendem Jahr allein von den Einsparungen des Vertrages profitiert.
Nach 5 Jahren ist die I3G mit dem Schizophrenie-Projekt zufrieden: „Die Kooperation hat die Versorgung auf jeden Fall verbessert“, so Marlies Richter, Geschäftsführerin von I3G [2]. „Von den 713 Patienten, die Ende 2012 in der IVS eingeschrieben waren, wurden insgesamt 13,3 Prozent stationär behandelt“, so die AOK.

Dass sich bis 2012 nur rund 700 Patienten eingeschrieben haben, führt Sievers auch auf die Schwierigkeiten zurück, psychisch kranke Menschen mit einer Einschreibung in einen Versorgungsvertrag vertraut zu machen. „Bezogen auf alle in die IV eingeschriebenen Patienten betrug die stationäre Aufenthaltsdauer im Mittel 5,6 Tage. Im Vergleich dazu lag die kumulative stationäre Verweildauer aller an Schizophrenie erkrankten Versicherten der AOK Niedersachsen 2011 bei elf Tagen“, hieß es.

„Wir haben festgestellt, dass sich die Versorgung bisher eher am vorhandenen Angebot orientiert als am Bedarf.“
Dr. Matthias Walle

Vermittlungsstellen ermitteln den Bedarf

Eine flächendeckende ambulante IV-Versorgung strebt auch das Projekt „Kompass“ der Managementgesellschaft IVPNetworks an. Es wird in Teilbereichen in Niedersachsen umgesetzt und hat bislang 150 eingeschriebene Patienten. Das Projekt dient vor allem dazu, die im System vorhandenen Therapiemöglichkeiten besser auf die Patienten zu verteilen.

So ist dem eigentlichen Therapiegeschehen eine Clearingstelle vorgeschaltet. „Nach der frühen diagnostischen Abklärung werden den Patienten hier die passenden Therapien angeboten, angefangen bei der psychosozialen Beratung über Telefoncoaching, Gruppentherapie bis hin zur Einzeltherapie“, erklärt der Psychiater Dr. Matthias Walle, Geschäftsführer von IVPNetworks.

„Wir haben festgestellt, dass sich die Versorgung bisher eher am vorhandenen Angebot orientiert als am Bedarf“, sagt Walle. Die Patienten erhalten also deshalb zum Beispiel Kurzzeittherapien, weil solche Therapien verfügbar sind. Das Mittel der Wahl sind sie aber offenbar selten. „Nach Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) brechen zwei Drittel der Patienten die Kurzzeittherapien ab“, so Walle. Um derartige Effekte zu vermeiden, sucht die Clearingstelle sofort die passende Therapie.

Schwer psychisch Erkrankte versorgt IVPNetworks ebenfalls über einen IV-Vertrag. Hier vermittelt keine Clearingstelle, sondern ein Bezugstherapeut ist rund um die Uhr für den Patienten da. In Krisen kann sich der Patient direkt an ihn wenden. Einer Studien zufolge erleben die  eingeschriebenen Patienten die ambulante Betreuung im Rahmen des IV-Vertrages als deutliche Verbesserung ihrer Situation [3].

„Die ursprüngliche Erwartung, dass die Gesamtkosten der IV niedriger sind als vor der IV, konnte nicht bestätigt werden.“
Dr. Matthias Walle

Walle: „Eine Krise zu haben, bedeutet für die Patienten nun nicht mehr automatisch einen Klinikaufenthalt. „... für mich ist es einfach beruhigend, dass so was möglich ist“, zitiert die Studie einen Patienten im IV-Vertrag. Patienten der Kontrollgruppe dagegen empfanden ihre Versorgung im Krisenfall oft als nicht bedarfsgerecht.

Nicht unbedingt ein Sparmodell

Ob die Kooperation mit der Janssen-Cilag-Tochter I3G Geld gespart oder mehr Geld gekostet hat, „ist noch nicht klar“, sagt AOK-Sprecher Sievers. „Die Evaluation ist noch nicht beendet.“ Allerdings ist kaum anzunehmen, dass Janssen-Cilag dem vorzeitigen Ende der Kooperation zugestimmt hätte, ohne die eigenen Kosten wenigstens refinanziert zu haben.

Dass die IV für psychisch Kranke aber nicht mehr kostet, als die Regelversorgung, konnte eine Studie über Walles Komplexbehandlung mit Bezugstherapeuten nachweisen. „Die ursprüngliche Erwartung, dass die Gesamtkosten der IV niedriger sind als vor der IV, konnte nicht bestätigt werden, da die Einsparungseffekte infolge der Verringerung der stationären Behandlungskosten durch Mehrausgaben in anderen Bereichen (u.a. Ausgaben für Medikamente im ambulanten Bereich sowie Modellfinanzierung) kompensiert wurden. Allerdings trat unter der IV auch über einen längeren Zeitraum keine Kostensteigerung ein.“ [4]

Referenzen

Referenzen

  1. Busch ME, et al: Bundesgesundheitsbl?2013;56:733–739
    http://edoc.rki.de/oa/articles/reTN7kZkaLF1o/PDF/20q1kPfuqFfQ.pdf
  2. AOK Niedersachsen: Pressemitteilung „Positive Bilanz der Vertragspartner der Integrierten Versorgung Schizophrenie (IVS)“, 25. April 2014
    https://www.aok.de/niedersachsen/presse/Positive-Bilanz-der-Vertragspartner-der-Integrierten-Versorgung-Schizophrenie-%28IVS%29-Apr%2025,%202014/detail/321/lastAction/index/page/1
  3. Jürgensen M, et al: Psychiat Prax 2014;41(01):29-36
    http://dx.doi.org/10.1055/s-0033-1343160
  4. Fischer F, et al: Gesundheitswesen 2014;76(02):86-95
    http://dx.doi.org/10.1055/s-0033-1343438

Autoren und Interessenkonflikte

Christian Beneker
Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

Walle M, Beins, W, Sievers C, Richter M: Es liegen keine Erklärungen zu Interessenkonflikten vor.

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